Keine EM in Bilbao | Verlag Die Werkstatt Direkt zum Inhalt
blog vom 22.04.2021

Keine EM in Bilbao

Am 31. Mai 1967 absolvierte die spanische Nationalmannschaft das letzte Mal ein Spiel in Bilbao. Das sollte sich ändern, denn in der baskischen Stadt sollte Spanien im Sommer 2021 alle drei EM-Vorrundenspiele austragen (ein Achtelfinale sollte ebenfalls in Bilbao stattfinden) – doch zwei Monate vor dem Start der EM verliert Bilbao den Status als Ausrichterstadt.

Von Dirk Segbers

 

Am 5. Juni 2013 wird „El Txopo“ noch einmal eingewechselt. Im schwarzen Torwartdress läuft er unter Standing Ovations aufs Feld, der Jubel ist ohrenbetäubend. Mit seinen mittlerweile 70 Jahren hat er nur wenig von der Figur eingebüßt, die ihm seinen Spitznamen einbrachte: schlank und hoch gewachsen, die Pappel. Arme wie Äste, die in jede Ecke des Tores zu wuchern scheinen. Der Albtraum ganzer Generationen von Gegenspielern: Puskás, Netzer, del Bosque.

Für José Ángel Iríbar, wie die Torwartlegende mit bürgerlichem Namen heißt, ist es ein besonderer Tag. Nicht nur, weil er mit 70 Lenzen noch einmal für ein paar Minuten das Tor in einem Freundschaftsspiel für Athletic Bilbao im Estadio de San Mamés hüten darf. Es ist das allerletzte Spiel in der alten „Kathedrale“ – wenige Monate nach dem Abschiedskick gegen eine baskische Regionalauswahl zieht Athletic in den neu errichteten, ultra-modernen Fußballtempel gleich nebenan. Im alten Stadion hat Iríbar 18 Saisons gespielt, seine gesamte Profikarriere – ein One Club Man.

Fast auf den Tag genau 46 Jahre zuvor, am 31. Mai 1967, befindet sich José Ángel Iríbar an gleicher Stelle: San Mamés, zwischen den Pfosten. Iríbar steht in der Startelf – die unumstrittene Nummer eins, auch in der spanischen Nationalelf, deren Trikot er an diesem Tag trägt. Die Kathedrale ist spärlich gefüllt, die Stimmung weniger festlich als 46 Jahre später. Mit 2:0 gewinnen die Iberer ein unspektakuläres EM-Qualifikationsspiel gegen die Türkei. Auch dieses Duell wird ein letztes Mal markieren, aber das kann Iríbar noch nicht ahnen. Noch über 30 weitere Spiele wird er für La Roja bestreiten, aber nie wieder in San Mamés. Arconada, Zubizarreta, Casillas, de Gea: Keiner seiner Nachfolger wird im Trikot der Nationalmannschaft San Mamés betreten. Der 31. Mai 1967 ist bis heute der letzte Tag, an dem Spanien ein Heimspiel in Bilbao, gar im ganzen Baskenland, absolviert. 

Bilbao San Mames
San Mames in Bilbao. (Foto: thierry llansades, CC BY-NC-ND 2.0, https://flickr.com/photos/llansades/22089214905/)

Keine EM in Bilbao

Nun ist bekannt geworden, dass das auch vorerst so bleiben wird. Die drei Vorrundenauftritte der spanischen Nationalelf bei der Europameisterschaft 2021 werden nicht in Bilbao ausgetragen, ebenso wenig das für die baskische Metropole vorgesehene Achtelfinale. Keine zwei Monate vor Beginn der EM verliert Bilbao den Status als Ausrichterstadt,. der spanische Verband RFEF wird aller Voraussicht nach auf Sevilla ausweichen. Schuld daran ist je nach Betrachtungsweise die Corona-Pandemie, die UEFA oder die Regierung der autonomen Region Baskenland. Im Juni 2020 soll die spanische Elf eigentlich ihr erstes Spiel seit 53 Jahren im Baskenland austragen, die Pandemie sorgt bekanntermaßen für die Turnierverschiebung, aus 53 werden 54 Jahre. München, Rom, London, in den anderen elf Städten der Multinationen-EM haben Spiele der jeweiligen Nationalmannschaft Tradition. Bilbao bildet die Ausnahme.

Die baskische Gesellschaft ist auch über 45 Jahre nach Ende der Franco-Diktatur gespalten, viele fühlen sich nicht zu Spanien zugehörig. Als die spanische Nationalelf von 2008 bis 2012 eine beispiellose Titelserie hinlegt, sieht man zwar auch in den baskischen Städten rot-gelb-rote Flaggen und Autokorsos, viele verfolgen die Turniere jedoch nur aus fußballerischem Allgemeininteresse, einige unterstützen gar andere Nationen. Unabhängigkeitsbestrebungen sind besonders in Teilen der Jugend fest verankert, allerdings in den vergangenen Jahren von der Straße eher in die Politik gerückt. Gewaltsame Szenen wie seit 2017 in den Straßen Kataloniens sieht man in Bilbao oder San Sebastián nicht (mehr), wenngleich in den Regionalparlamenten von moderaten und radikalen Unabhängigkeitsbefürwortern bis hin zu Rechtspopulisten alles vertreten ist. Die spanische Nationalelf wollen viele im Baskenland aber lieber nicht sehen. Ob die in der Mehrheit oder in der Minderheit sind, daran scheiden sich die Geister. Athletic Bilbao ist so eine Art Ersatz-Nationalelf, ein Team voller Basken, das gegen die Großen kämpft. An zweiter Stelle folgt für viele die Euskal Selekzioa, die (nicht offiziell anerkannte) baskische Nationalelf, die gelegentlich gegen wohlgesonnene Nationen zu Freundschaftsspielen antritt. Ihr Merchandising im traditionellen Grün-Weiß-Rot erfreut sich reger Beliebtheit bei Jugendlichen, während die Trikots der spanischen Nationalelf eher Ladenhüter sind.

Das Herz im Baskenland, der Kopf in Spanien

José Ángel Iríbar hat für alle drei gespielt: Athletic Bilbao, die spanische und die baskische Auswahl. Er steht sinnbildlich für die Zerrissenheit der baskischen (Fußball-)Seele. Auch zu seiner Zeit, in den 1960er-Jahren, feiert die spanische Nationalelf Erfolge. Beim EM-Sieg 1964 steht er im Tor. Da regiert in Madrid der Faschist Francisco Franco diktatorisch, alles „Nicht-Spanische“ wird unterdrückt, den Basken verbietet er gar ihre eigene Sprache. José Ángel Iríbar reizt trotzdem die Herausforderung in der Nationalelf, politische Themen verdrängt er: „Ich hatte immer die Mentalität eines Sportlers“, antwortet er 2019 in einem Interview auf die Frage, ob er das Gefühl verspürte, die spanische Nation zu vertreten. „Der Fußball wird von den nationalen Verbänden, der UEFA und der FIFA organisiert, aber im Endeffekt repräsentiert man natürlich ein Land.“ 49 Länderspiele wird Iríbar für Spanien bestreiten, das letzte wenige Monate nach Francos Tod Ende 1975. Im Mai 1976 läuft er im Ligaspiel gegen Real Sociedad zusammen mit einem Gegenspieler mit der Ikurriña ein, der baskischen Fahne, die damals als einzige Regionalflagge immer noch verboten ist. Ein politischer Fingerzeig Richtung Madrid, ein gewollter Affront als Zeichen der Unterstützung des baskischen Volkes, das nach Ende der Diktatur um seine Rechte kämpft. Danach wird Iríbar nicht mehr für die spanische Nationalelf berücksichtigt, auch wenn er nach eigenen Angaben gern weitergemacht hätte. Sein 50. Länderspiel bestreitet er für die baskische Auswahl, wie er selber sagt, das ist 1979.

Mehr als 40 Jahre später stehen bekannte Namen wie Andoni Goikoetxea, Fernando Llorente, Javi Martínez und Xabi Alonso auf der Liste derer, die im Laufe ihrer Karrieren sowohl für die baskische als auch für die spanische Nationalmannschaft aufgelaufen sind. Die Auftritte mit der Ikurriña auf der Brust haben gewiss bei weitem nicht mehr die politische Sprengkraft wie zu Iríbars Zeiten. Sie haben Event-Charakter, die Gegner sind meist zweitklassig: Costa Rica, Panama und Venezuela hießen die letzten drei. Die spanische Nationalelf hingegen bietet, genau wie zu Iríbars Zeiten, eine sportliche Herausforderung und Aussicht auf Titel, selbstverständlich auch eine internationale Bühne im Fußballgeschäft. Das Herz im Baskenland, der Kopf in Spanien.

Die EM als Spielball der Pandemie und der Politik?

In Bilbao sieht man die EM 2020 in einigen politischen Sektoren und besonders in Unternehmerkreisen zunächst vor allem als wirtschaftliche Chance. Die zugelosten Gegner Polen und Schweden, mit Abstrichen auch die Slowakei, versprechen Fanmassen, die Einnahmen in die lokalen Unternehmen spülen. Kurz nach Terminbekanntgabe ist für die Spieltage kaum noch ein Hotelzimmer unter 500 € die Nacht zu ergattern. Die Pandemie hat jedoch die Hoffnungen auf Millioneneinnahmen weitgehend zerstört. Welche Argumente bleiben, in Corona-Zeiten, vor wenig Publikum und mit wenigen Besuchern aus dem Ausland in Bilbao zu spielen? Beim spanischen Verband RFEF läuft aktuell die WM-Bewerbung für 2030, gemeinsam mit Portugal. Bilbao stellte vielleicht auch so etwas wie die größtmögliche Herausforderung dar, um auf der Weltbühne des Fußballs zu zeigen, dass man einen reibungslosen Ablauf sogar dort gewährleisten kann, wo eventuell mit Protesten gegen die „eigene“ Mannschaft oder schlimmstenfalls mit Ausschreitungen zu rechnen wäre.

Als die UEFA durch die Forderung, die EM dürfe nur vor Publikum ausgetragen werden, die nationalen Verbände unter Zugzwang setzt, nimmt die baskische Regionalregierung das Heft in die Hand. Unter 40 müsse die 14-Tage-Inzidenz liegen, die Impfquote 60 Prozent betragen und maximal zwei Prozent der Intensivbetten dürfen belegt sein, damit San Mamés zu 25 Prozent ausgelastet werden kann, legt sie fest. Werte, die zurzeit utopisch sind, die Inzidenz liegt im Baskenland bei über 400, die Impfquote bei unter 15 Prozent. Doch: Was ist aktuell wichtiger als der Schutz der Bevölkerung vor dem Virus? Vonseiten der Pandemie-gebeutelten Hoteliers und Gastronomen gibt es trotzdem einen Aufschrei: Die verzweifelte Branche will verständlicherweise alles mitnehmen, besser ein reduziertes Publikumsaufkommen als gar keines. Stimmen aus Madrid – vornehmlich aus dem politisch rechten Lager – behaupten, die baskische Regierung unter Führung der konservativen baskischen Nationalisten (PNV) habe die Chance beim Schopfe gepackt, sich die unerwünschte EM vom Leibe zu schaffen, auf Kosten der lokalen Industrie. Die große Chance zur weltweiten Werbung für Stadt und Region sei versiebt worden.

Die EM, ein Spielball der Pandemie und der Politik. So werden alte Gräben wieder aufgerissen. Zeit, sich der verbindenden Elemente zu besinnen. 2021 feiert die RFEF ein 100-jähriges Jubiläum. Am 9. Oktober 1921 trug die spanische Nationalmannschaft das erste Heimspiel ihrer Geschichte aus: im Estadio de San Mamés, Bilbao.

 

Dirk Segbers (Jahrgang 1980) ist Diplom-Übersetzer und Autor. Der gebürtige Münsterländer lebt im nordspanischen Miranda de Ebro, von wo aus er regelmäßig über den spanischen Fußball berichtet, u. a. für den "Ballesterer" und "11 Freunde".

 

Bilbao, San Mames
Kein Spielort der EM 2021: Bilbao. (Foto: gasdub, CC BY-NC-ND 2.0, https://flickr.com/photos/45952129@N00/38314178956/)