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blog vom 18.12.2020

BVB kontra Bayern – Mehr Realismus bitte!

Von Dietrich Schulze-Marmeling

Meines Erachtens wird bei der Betrachtung der Entwicklung des BVB häufig der Fehler gemacht, dass man den Sommer 2015 als Ausgangspunkt nimmt, als sich der Verein von Jürgen Klopp trennte.

Wir müssen aber 2012 beginnen.

2011/12 gewinnt der BVB das „Double“. 2012/13 erreicht er das Finale der Champions League, wo er den Bayern mit 1:2 unterliegt. Der BVB hätte das Spiel gewinnen können. Doch die schwarzgelbe Anfangsoffensive scheitert am famosen Neuer. Aber dies war nur EIN Spiel. Und die Champions League ist ein Pokalwettbewerb. In der Saison 2012/13 profitieren die Bayern und der BVB auch von der Schwäche und den Problemen der spanischen Topteams Barca und Real. Und einer unglücklichen Pokalansetzung durch den spanischen Verband. Die Folge ist eine Überschätzung des deutschen Vereinsfußballs – und damit auch des BVB, wenn von den „zwei Leuchttürmen“ oder vom „deutschen Clasico“ die Rede ist.

Wie sich die Dinge zwischen dem BVB und den Bayern seit dem Sommer 2012 entwickelt haben, erzählt uns nicht die Champions League, sondern der Verlauf der nationalen Meisterschaft. 2012/13 wird der FC Bayern Meister, der Vorsprung auf den „Vize“ BVB beträgt 25 Punkte !!! Die Bayern haben die Hegemonie zurückerobert. National kann der BVB mit seinem Fußball nicht mehr überraschen, in München hat Jupp Heynckes ein starkes Team entwickelt, und Uli Hoeneß hat das gemacht, was er immer schon gemacht hat, wenn ihm ein nationaler Konkurrent zu stark auf den Leib rückte: Er bläst zur Transferoffensive. Der BVB hat das schon einmal erlebt, in den 1990er Jahren, es ist fast eine Kopie dieser Zeit. Auch damals wurde der BVB zweimal in Folge Meister. Als es national nicht mehr langte und die Bayern wieder die Liga anführten, reichte es noch fürs Champions League-Finale, das man sogar – anders als 2013 – als underdog gewann.

Wurde in Dortmund auch ein Opfer unrealistischer Erwartungen: Lucien Favre
Wurde in Dortmund auch ein Opfer unrealistischer Erwartungen: Lucien Favre (Foto: imago Images)

Auch in den letzten beiden Klopp-Jahren heißt der Meister FC Bayern. Von den zehn Duellen zwischen den Bayern und dem BVB seit Beginn der Saison 2012/13 gewinnen die Bayern sechs. Drei enden unentschieden (wenn man den Ausgang von Elfmeterschießen nicht wertet), einmal behält der BVB die Oberhand, als Klopp Guardiola in der Allianz Arena taktisch austrickst. In Europa bzw. in der Champions League spielt der BVB seit dem Finale von 2013 keine große Rolle mehr: Viertelfinale 2013/14, Achtelfinale 2014/15.

Wie sich das Kräfteverhältnis zwischen Dortmund und München entwickelte, zeigt auch ein Blick auf die Transferpolitik. Im Sommer 2013 wechselt Mario Götze vom BVB zum FC Bayern. Götze gilt als größtes Talent im deutschen Fußball, wird zum neuen Messi hochgejazzt. 2014 folgt Robert Lewandowski. Der BVB bezahlt seinen Wechsel zum FC Bayern mit einem Absturz in der Tabelle. Platz sieben (33 Punkte hinter dem FC Bayern) war die schlechteste Platzierung seit sieben Jahren. 2016 geht auch noch Mats Hummels nach München – 2019 ist er zurück beim BVB, weil die Bayern ihre Innenverteidigung verjüngen wollen.

Weitere Spieler aus der „Double“-Elf, die der BVB anschließend verliert: Shinji Kagawa und Ilkay Gündogan. Von der Bayern-Elf, die 2013 das „Triple“ gewinnt, wechselt nur Kroos anschließend zu einem anderen europäischen Topverein. Neuer, Lahm, Schweinsteiger, Müller, Alaba, Boateng, Martinez, Robben, Ribery – sie alle bleiben und widerstehen den Angeboten anderer Vereine. Wie auch später Lewandowski, der mittlerweile im siebten Jahr bei den Bayern spielt.

Dass Götze, Lewandowski und Hummels zum FC Bayern wechselten, war sicherlich nicht nur finanziellen Erwägungen geschuldet. Bereits 2013 war klar, dass man mit dem FC Bayern besser Trophäen gewinnen kann. Und heute: Die deutschen Nationalspieler Goretzka, Kimmich, Gnabry und Sané gehen nicht zum BVB, sondern zum FC Bayern.

Und in dieser Saison? Von den erfahreneren Kräften, also den Spielern über 26, können es nur zwei, drei mit dem entsprechenden Sortiment des FC Bayern aufnehmen. Ich glaube nicht, dass der FC Bayern an Witsel, Reus, Delaney, Schmelzer, Piszcek, Bürki, Can oder Hummels brennend interessiert ist. Bei den Bayern gehören zu dieser Altersgruppe Neuer, Boateng, Alaba, Müller, Lewandowski, Douglas Costa, Martinez, Choupo-Moting. Borussias junge Truppe ist beeindruckend (Haaland und Co.) ist beeindruckend, aber kann sie schon eine Meisterschaft schultern? Bayerns Kader wirkt insgesamt stabiler. Klar, KANN man mit so einer Mannschaft auch mal Meister werden – wenn mit dem eigen Kader alles bestens läuft und beim Kontrahenten nicht.

Dass der BVB auf junge Talente baut, ist absolut in Ordnung. Sie bereichern nicht nur den BVB, sondern die gesamte Liga. Erreichen sie Weltklasse, werden sie nicht beim BVB bleiben.

Was nicht in Ordnung ist: Dass man so tut, als sei man mit den Bayern auf Augenhöhe. Und es allein am Trainer liegt, wenn man an ihnen nicht vorbeizieht. Hier reden einige Medien an der Realität vorbei – gilt aber auch für viele Fans.

Lucien Favre: Seine Demontage beginnt spätestens am 27. April 2019, als der BVB daheim den Schalkern mit 2:4 unterliegt. Anschließend erklärt Favre das Titelrennen für gelaufen. Bei noch drei ausstehenden Spielen und nur zwei Punkten Rückstand (durch das deutlich schlechtere Torverhältnis gegenüber den Bayern waren es de facto drei) ist dies etwas vorschnell. Watzke widerspricht seinem Trainer öffentlich und kritisiert ihn. Warum? Warum klärte man dies nicht intern? „Lucien, wie hast du das gemeint?“ Vermutlich war Favre nach dem Spiel mächtig frustriert gewesen. Vermutlich war er aber auch einfach Realist. Und: Verliert man wegen einer derartigen Aussage ein Meisterschaftsrennen? Ich habe drüber nachgedacht, wie ich an Stelle von Favre reagiert hätte. Gegenüber der Außenwelt hätte ich nichts anderes gesagt, auch um den Druck von der Mannschaft zu nehmen, den Kontrahenten etwas einzulullen. Und intern? „Jungs, wir haben keine Chance - also nutzen wir sie!“

Außerdem hatte der FC Bayern zum Zeitpunkt der Favre-Äußerung noch nicht sein Spiel beim weit abgeschlagenen Tabellenletzten Nürnberg absolviert. Alle gingen von einem Bayern-Sieg aus, dann hätte der Vorsprung vier Punkte betragen. Aber der Rekordmeister musste sich mit einem Remis begnügen.

Der BVB holt aus den folgenden drei Spielen sieben von neun möglichen Punkten, was nicht dafür spricht, dass Favre das Titelrennen eingestellt hat. Punkte lässt man nur in Bremen liegen (2:2) – nach einer 2:0-Führung. Aber auch ein Sieg in Bremen hätte nicht gereicht – auf Grund des deutlich besseren Torverhältnisses der Bayern.

Seit dem Spiel gegen Schalke malte der Verein mit am Bild vom Zauderer Favre, der nicht Meister werden will, der keine großen Spiele kann. Wie schon im Fall von Thomas Tuchel war man überrascht, was einige Medien zu erzählen wussten – und nicht nur die. Und was einem selber zugesteckt wurde.

Weiter ging es mit der Watzke-Autobiografie und der öffentlichen Kür von Jürgen Klopp zu seinem Lieblingstrainer. Schwärmerisch wird Klopp als einmaliger Glücksgriff beschrieben. Auch erfährt man, dass Watzke im Sommer 2018 eigentlich einen anderen Kandidaten als Favre wollte: Er bemühte sich um eine Rückkehr von Klopp. Ein entsprechender Versuch wurde wenige Wochen vor der Verpflichtung von Favre unternommen.

Kann man alles schreiben. Aber wäre es nicht besser gewesen, sich das Porträt einer Männerfreundschaft für die Zeit aufzusparen, in der man beim BVB nicht mehr in der Verantwortung steht? In der man nicht mehr der Mann ist, der darüber entscheidet, wer der Trainer ist? Unbeabsichtigt geriet die Sache ein wenig zur Selbstdemontage: „Watzke kann nur Klopp.“ Es entstand der Eindruck, dass einem beim BVB nur dann eine längere Amtszeit beschieden ist, wenn man ein Freund des Bosses ist.

Als nächstes wussten die Medien zu berichten, dass Watzke mit José Mourinho befreundet sei. Und „Mou“ Sympathien für den BVB hege. Zufall?

Kurz und schlecht: Favres Zeit war schon vor dieser Saison abgelaufen. Möglicherweise fehlte dem BVB nur ein attraktiver Nachfolger. Spieler, die ihn weghaben wollten, wussten schon vor dem Saisonstart, dass sie damit Erfolg haben würden. Es bedurfte nur eines Anlasses.

Wenn der BVB akzeptiert, dass seine „Probleme“ bereits im Sommer 2012 begannen (sofern man die fünf Vizemeisterschaften seit 2012 als „Problem“ betrachtet – zwei dieser fünf entfallen auf Favre), findet er vielleicht auch einen Trainer, der in Dortmund mehr als nur zwei Spielzeiten überlebt. Der BVB ist seit dem Weggang von Klopp ja nicht schlechter geworden. Gegenüber den letzten drei Klopp-Jahren hat er sich sogar verbessert. Wenn Watzke dies ebenso sehen würde, dann würde man auch seine Arbeit mehr würdigen. So aber könnte der Eindruck entstehen: Mit Klopp war es super, aber vor ihm und danach war das nichts. Was – auch gegenüber Watzke – ungerecht wäre.

Und dann gibt es noch ein Problem: Sieben Jahre Klopp haben dazu geführt, dass sich sein „Vollgas-Fußball“ im Denken der Fans als schwarzgelbe DNA etabliert hat. Folglich wird die Philosophie seiner Nachfolger mit dieser abgeglichen. Vor allem dann, wenn man angeblich „erfolglos“ spielt, also in der Bundesliga „nur“ Zweiter oder Dritter wird.

 

 

Trainer
"Trainer!" erscheint im Frühjahr 2021

Dietrich Schulze-Marmeling ist Autor zahlreicher Bücher, zuletzt erschien „Klopps Liverpool“, im Frühjahr folgt "Trainer. Die wichtigsten Männer im Fußball". Außerdem ist er Mitherausgeber des im Verlag Die Werkstatt erschienenen "Goldenen Buchs der Fußball-Weltmeisterschaft".

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