blog vom 07.12.2020
Löw im Spannungsverhältnis zwischen DFB und DFL
Die Löw-Debatte leidet etwas unter einer Überschätzung der Bedeutung von DFB, Nationalmannschaft und Bundestrainer. Anmerkungen zur Entscheidung des DFB pro Löw.
Von Dietrich Schulze-Marmeling
Würde die Nationalmannschaft sportlich die Bedeutung besitzen, die ihr angedichtet wird, wären Ribbeck/Stielicke, Völler/Skibbe, Klinsmann/Löw nicht Bundestrainer geworden.
Klinsmann/Löw irritierten damals die Klubs, als sie in einer Zeit, in der die Nationalmannschaften bereits gegenüber den Stadtstaaten im Fußball an Bedeutung verloren, die DFB-Elf zur Avantgarde in Sachen Trainingsphilosophie, Spielphilosophie und Taktik ausriefen. Was sie dann auch für einen gewissen Zeitraum war. Was die Klubs keineswegs nur gut fanden. Einige fühlten sich etwas vorgeführt. Mit Hilfe von Kalibern wie Klopp, Heynckes, Guardiola, Rangnick, Favre und Tuchel erreichten die Klubs dann wieder Augenhöhe und schließlich die Hegemonie.
Kaum ein Profiklub dürfte ein Interesse haben an einer Situation, die den Jahren 2004 ff. ähnelt. In der ein Bundestrainer den Klubs ihre Defizite veranschaulicht und vormacht, wo es in Zukunft langgeht. Weshalb ein Ralf Rangnick auch nicht Bundestrainer wird.
Profiklubs pro Löw
Im ZDF-Sportstudio hat Per Mertesacker die Möglichkeiten des Bundestrainers ganz gut beschrieben. Dessen Spielräume sind noch enger geworden, auch aufgrund der Pandemie, die noch größere Rücksichtnahme auf die Vereine verlangt.
Löw blieb nicht Bundestrainer, nur weil der DFB es so wollte. Die DFL wollte das. Hätte die DFL ihren Daumen über den Bundestrainer gesenkt, wäre Löw weg. Aber die Profivereine fahren gut mit Löw. (Mit Rangnick würde es schwieriger.) Der Bundestrainer akzeptiert sogar, dass er sich nicht mit einem Testspiel auf die Pflichtspiele vorbereiten kann.
By the way: Nach 2006 hieß es, Klinsmann habe eigentlich nichts gekonnt. Er habe von seinem Assistenten Löw profitiert. Der Jogi, der sei in Sachen Taktik richtig firm. Der habe ja auch das Training gemacht. Ohne einen Löw an seiner Seite funktioniere Klinsmann nicht. Klinsmanns Scheitern bei den Bayern diente dann als ultimativer Beleg für diese These.
Nun höre ich: Die WM 2014 wurde nur dank Assistenztrainer Flick gewonnen. Verbreitet wird dies von Leuten, für die Flick 2014 nur „der Hansi“ war. Jener „Hansi“, den man beim Drittligisten Hoffenheim geschasst hatte, weil seiner Truppe wiederholt nicht der Aufstieg in die 2. Liga gelang. Vielen dieser Leute dämmert erst seit einem guten halben Jahr, dass der „Hansi“ ein verdammt guter Trainer ist. Weshalb er jetzt auch Nationaltrainer werden sollte.
Klub vor Nationalelf, DFL vor DFB
Der DFB ist eine den großen Klubs und der DFL nachgeordnete Institution. Das gilt auch für die Nationalmannschaft. Ansonsten müsste der Bundestrainer nicht ständig auf die Vereine Rücksicht nehmen. Der Bundestrainer muss sich die Spieler bei den Klubs gewissermaßen ausleihen. Weshalb Rummenigge darüber empört ist, dass der DFB mit seinen Spielern Marketing betreibt und sie zu Sponsorenterminen schickt. Der DFB verlegt auf „Wunsch“ des FC Bayern ein Pokalspiel. Der Verband ist froh darüber, dass Klubs wie die Bayern, der BVB und Co. überhaupt noch bei diesem Wettbewerb mitmachen. Aber irgendwann wird der Ausstieg kommen. Zumindest aber ein deutlich verspäteter Einstieg.
Hilflos (und anachronistisch) ist die Forderung, die Vereine sollten die Zahl ausländischer Akteure beschränken. Am Samstag waren von den 33 Spielern in den Startformationen der drei Topklubs Bayern, RB Leipzig, BVB nur zehn berechtigt, für den DFB zu spielen. Es wurde kritisiert, dass Löw am Samstagabend nicht beim Topspiel Bayern gegen RB in der Allianz Arena erschien. Welchen Spieler sollte er dort beobachten? Bei RB war von 16 eingesetzten Spieler nur der 30-jährige Kevin Kampl für den DFB verfügbar. Beim FC Bayern waren es von 15 Spielern sieben (einschließlich Müller und Boateng), die Löw aber alle bereits bestens kannte.
Warum sollten die Klubs die Zahl der Ausländer begrenzen? Warum sollten sie sich freiwillig sportlich schwächen? Wegen der Nationalmannschaft? Und: Wer soll die Klubs dazu zwingen? Der DFB, der für die 1. und 2. Bundesliga gar nicht verantwortlich ist?
Irgendeine Form von Quote – in der Ausbildung wie im Profikader – wäre für die Klubs nur dann interessant, wenn die Nationalmannschaft in die Verantwortung der DFL fallen würde, die Milchkuh Nationalmannschaft in den Besitz der Profiklubs übergehen würde. Was aber nicht vorgesehen ist und auch keinen Sinn macht: Die Bundesliga ist international, aber zusätzlich unterhält die DFL noch eine Mannschaft, in der nur deutsche Staatsbürger kicken dürfen … Und außerdem: So viel Geld spielt die Milchkuh auch nicht ein. Im EM-Jahr 2016 betrug der Gewinn 50 Mio. Das entspricht in etwa den aktuellen Medienerlösen von Klubs wie Augsburg, Mainz und Bremen. Für den DFB sind 50 Mio. viel, aber verteilt auf 18 Fußballklubs sind das eher Peanuts.
Wem es noch nicht aufgefallen ist: Die Task Force „Zukunft des Profifußballs“ wurde nicht vom DFB ins Leben gerufen, sondern von der DFL. Aus guten Gründen.
„Mission Titelverteidigung“
Was ich beim Bundestrainer tatsächlich vermisse: Dass er mal kräftig auf den Tisch haut. Dass er lautstark die Probleme benennt, die sich seinem Einfluss entziehen. Vermutlich ist er hierfür zu sehr Gentleman. Und Jammern ist auch nicht seine Sache – im Gegensatz zu einigen Klubtrainern, die das aktuell tun. Häufig durchaus berechtigt. Aber was sind die Personalprobleme des FC Bayern verglichen mit denen der Nationalelf? Was erwartet man von einem Trainer, der eine Mannschaft, die eines Umbruchs bedarf, nur vier-, fünfmal im Jahr versammeln kann? Häufig nicht einmal vollständig. Und diesen Umbruch unter den Bedingungen einer Pandemie bewerkstelligen muss?
Die Geschichte wiederholt sich. Nach der WM 1990 regierte ebenfalls die Überschätzung des eigenen Potenzials. Die WM 1994 geriet zur Pleite, trotz eines nominell starken Kaders. Schon damals diagnostizierten einige, dass man in Sachen Ausbildung, Taktik und Spielphilosophie international den Anschluss verlieren würde. 1996 wurde die DFB-Elf (un)glücklicherweise Europameister – somit gab es keinen Anlass mehr, um über Defizite und deren Behebung nachzudenken. „Was wollt ihr denn? Ist doch alles in Butter mit den deutschen Tugenden!“
Im deutschen Fußball muss man mindestens zweimal in Folge scheitern, damit auch der letzte kapiert: Wir müssen etwas ändern – und zwar nicht nur personell. (Berti Vogts, der die Defizite früh erkannt hatte, hat uns mal erzählt, wie schwierig das damals war.)
Dass wir auf bestimmten Positionen Probleme bekommen würden, war schon 2014 ersichtlich – wurde auch von Löw/Flick angesprochen. Das wiederum entging vielen. Der Kader des Weltmeisters war nicht so überragend, wie viele glaubten. Dass wir auch damals keine „Dribbler“ hatten, konnten wir (noch) gut kaschieren oder anders kompensieren – wie das Fehlen von Außenverteidigern von internationaler Klasse (außer Lahm). Bei der EM 2016 funktionierte es bereits nicht mehr so richtig, 2018 dann überhaupt nicht. Die Gegner spielten gegen uns nun anders als 2010. Aber das war kein Problem der Spielphilosophie (zumindest nicht in erster Linie), sondern der zur Verfügung stehenden Spieler.
Momentaufnahme oder Entwicklung?
Vor diesem Hintergrund war 2018 die Parole „Titelverteidigung“ Blödsinn. (Mein Tipp lautete Viertelfinale). Es wurden falsche Erwartungen geweckt. Aber in einem Land, das viermal Weltmeister war, darf man natürlich nicht sagen: „Unser Ziel heißt Viertelfinale!“ 2002 war das möglich, weil wir zweimal in Folge gescheitert waren.
Mich hat damals gewundert, wie wenig der „Mission Titelverteidigung“ widersprochen wurde. Als dann zur ohnehin schlechten Stimmung auch noch das Theater um Mesut Özil und Ilkay Gündogan hinzukam, war ziemlich klar, dass wir eine Wiederholung der WM 1978 erleben würden.
Nun wird das Erreichen des Halbfinals zum Minimalziel der EM 2021 erklärt. Was will man? Will man nur die Momentaufnahme, also EM 2021, dann kann man zumindest Hummels zurückholen. Oder sagt man: „Ich will die Entwicklung – also: den Umbau weiter vorantreiben, vielleicht sogar radikalisieren. Mit dem Ziel, dass wir im Dezember 2022 eine gute Rolle spielen. Vielleicht so eine wie bei der WM 2010.“ Dann ist es aber Unsinn, Löws Amtszeit auf die EM zu begrenzen. Dann hätte man deutlich sagen müssen: „Wir ziehen das mit Löw bis 2022 durch.“ Oder einen Nachfolger benennen müssen, der bei der EM (noch) „scheitern“ darf. Eine Option, die Löw nicht zugestanden wird. Die man ihm aber vielleicht zugestehen würde, wenn man nach 2014 nüchterner agiert hätte, anstatt die Trauben (sportlich unbegründet) hoch zu hängen. Wenn sich Löw und Flick kritisch zu Wort meldeten, war das nie eine Schlagzeile wert. Für eine solche muss man allerdings auch mehr tun, als nur zu grummeln.
Aktuell ist die Situation so, dass es für Löw nichts zu gewinnen gibt. Stefan Hermanns im „Tagespiegel“: „Oliver Bierhoff (präsentierte) ein Zitat des Bundestrainers, der nach dem 0:6 gesagt hatte, er könne nicht erklären, wie ein solches Spiel zustande komme. Daneben stellte Bierhoff ein Zitat von Jürgen Klopp, der nach dem 2:7 des FC Liverpool gegen Aston Villa gesagt hatte, er könne nicht erklären, wie ein solches Spiel zustande komme. Doch während der eine – Klopp – hierzulande als tatkräftiger Anpacker gilt, steht der andere – Löw – längst als Zweifler und Zauderer da. Genau das ist Löws Problem. Und damit auch das des DFB. Die Stimmung ist gegen ihn, und gegen die Stimmung lässt sich nur schwer mit Fakten argumentieren. Ja, das ist unfair. Aber das interessiert die Stimmung im Zweifel eben nicht.“
Vermutlich wird es so laufen: Löw wird den Umbruch weiter betreiben, aber bei der EM „scheitern“. Die Ernte der Post-2018-Arbeit wird dann ein Nachfolger einfahren.

Dietrich Schulze-Marmeling ist Autor zahlreicher Bücher, zuletzt erschien „Klopps Liverpool“, im Frühjahr folgt "Trainer. Die wichtigsten Männer im Fußball". Außerdem ist er Mitherausgeber des im Verlag Die Werkstatt erschienenen "Goldenen Buchs der Fußball-Weltmeisterschaft".