blog vom 26.11.2020
Der Tag, an dem Maradona nach Neapel kam ...
… und der Irrsinn seinen Lauf nahm
von Oliver Birkner
Es rumort in der Stadt. Eine fortdauernde Tarantella seit dem 1. Juli 1984. Bald wird „Er“ kommen, der beste Fußballer der Welt. Neapel öffnet die Pforten für ganze Heere von Journalisten. Ein Franzose wundert sich, wie eine Stadt der tausend Probleme im Namen des Fußballs ihre Seele überlaufen lassen kann. Die Artisten der Fantasie haben in null Komma nichts die verwinkelten Gässchen überschwemmt. Maradona-Poster, Krippenfiguren, Maradona-Feuerzeuge, Shirts und Pullis, Bälle, Schals, Tröten, Fahnen und Kappen. Locken und lächelndes Konterfei auf Strümpfen mit dem Slogan „Maradona zu Füßen der Neapolitaner!“. Kinderspielzeuge erhalten „Seinen“ Namen, im Holzofen geht die Pizza Maradona auf. Zwischen Erniedrigung, Ramsch und Ratlosigkeit reicht „Sein“ Hinabsteigen für leuchtende Augen.
Das traditionelle SSC-Ristorante „Sarago“ offeriert heute: Linguine alla Maradona, Tagliatelle alla Juliano und Fettuccine alla Ferlaino. Auf den Verkaufsbänken liegen die ersten Kassetten. „Maradona ist besser als Pelé“, „Hymne an Maradona“ und „Il Tango de Maradona“ – nicht autorisiertes Original zehn D-Mark, Raubkopie des illegalen Originals 6,50 D-Mark. Boxen trällern Songzeilen wie: „Wer mag, kann die Polizei rufen, aber die macht Maradona auch nass. Wir kaufen alle eine Jahreskarte, schließlich sind wir Opfer gewöhnt. Maradona, bitte enttäusch uns nicht, Fußball ist alles, was wir haben. Napoli ersteht dank dir wieder auf, und wir machen dich zum König!“

Die Artikel finden reißenden Absatz, aus Kofferräumen, auf Motorhauben, an zusammengebastelten Ständen der Straßenränder. Cyterszpiler, Manager der „Maradona Producciones“, bereits gewohnt, das Image von Diego Armando Maradona ökonomisch auszuschlachten, reibt sich ungläubig die Augen. Bevor er überhaupt autorisierte Gadgets in Auftrag geben kann, existiert längst alles und mehr.
Neapel erlebt seine Epiphanie. Der Statue des Stadtheiligen San Gennaro streift man ein azurblaues Trikot über, er heißt jetzt „San Genner-armando“. Spruchbänder zieren die Häuser: „Diego, du bist das einzige Licht im Dunkel dieser Stadt“ – „Grazie Ferlaino und Juliano für die Nummer eins der Welt!“ Bald wird „Er“ kommen.
Aus der offiziellen Präsentation macht die Klubführung ein Staatsgeheimnis. Mit dem Helikopter solle er ins Stadion San Paolo eingeflogen werden, munkelt man. Manna vom Himmel. So könne man die erstickende Umklammerung der Neapolitaner vermeiden. „Wann und wie die offizielle Vorstellung stattfindet, bleibt ein Geheimnis“, sagt der Pressesprecher. Dienstag, 3. Juli, heißt es. Nein, Mittwoch. In letzter Sekunde schwenkt man um auf Donnerstag – der Vorlauf nimmt groteske Züge an. „Maradona hat um 14:05 Uhr italienischen Boden betreten“, melden die Lokalsender am 4. Juli. Der Argentinier wird abgeschottet und nach Capri zum Einstandsessen verfrachtet. Dann hat die Geheimniskrämerei ein Ende: Maradona stellt sich im San Paolo vor, aus Sicherheitsgründen ohne Hubschrauber, es ist der 5. Juli. 80.000 Tifosi zahlen die symbolische Summe von 1.000 Lire, manche mehr, der Schwarzmarkt blüht, als sei es das WM-Finale.
Schon um 16 Uhr ist das Stadion überfüllt, auf dem Rasen unterhalten Tanzgruppen und Violinisten. Rasch noch eine Pressekonferenz in der Sauna des Stadion-Untergrunds für 253 akkreditierte Journalisten, 78 Fotografen, neun TV-Sender. Ein Journalist des französischen Fernsehens fragt, wie viel Geld die Camorra zum Wechsel zugeschossen habe. Ferlaino wirft ihn aus dem Saal. „Ginge es nach mir, bekämen alle Kinder Gratiseintritt“, sagt Maradona. „Ich will das Idol der armen Kinder dieser Stadt werden, denn ihnen ergeht es so wie mir einst in Buenos Aires.“
„Raus, raus, raus!“, skandieren die Jünger im Stadion. 18:31 Uhr. Endlich betritt „Er“ in hellblauer langer Sporthose und weißem TShirt den Rasen, umzingelt von TV-Kameras und Fotografen, zwei werden im Tumult von Polizeihunden gebissen. Köpfe strecken sich, die Masse tobt, weil sie Dieguito nicht sehen kann – er muss noch einmal die Treppen hinunter und den Auftritt Tifosi-wirksam wiederholen. 1,68 Meter und dichte Locken drehen eine Ehrenrunde, gejagt von stolpernden Fotografen. Der König verteilt Handküsschen ins Bad der Menge. Bengalische Feuer qualmen, auf 20 Metern Stoff steht geschrieben: „Maradona ist der hellste Stern am neapolitanischen Himmel“. Er jongliert unter „Aahs“ und „Oohs“ mit dem Ball, spontan starten Ovationen und La Ola. Er greift zum Mikrofon – Totenstille. „Buonasera Napoletani! Ich bin überglücklich, bei euch zu sein. Forza Napoli!“ Dann jagt er den Ball gen Himmel, aus dem „Er“ soeben gekommen ist. Auf den Rängen bricht ohrenbetäubendes Gejohle aus. Auf den Ehrenplätzen schaut Ferlaino bewegt zu, vielleicht besitzt er letztlich doch Gefühle. Bruno Pesaola, der alte Haudegen zahlloser Napoli-Schlachten, hat rote Augen vor Tränen.
5. Juli 1984, das ungeliebte andere Italien kann sich warm anziehen. Von wegen Dreck, Kriminalität, Drogen, Scheiß-Süditaliener. Jetzt werden wir euch in den Hintern treten. Der beste Fußballer der Welt gehört Neapel, einer Stadt außer Rand und Band.
Maradona verschwindet in den Katakomben, es folgt die Apotheose. In den Straßen bricht die Hölle los, stundenlang ist der Verkehr wie paralysiert. Hupende Autos, knatternde Vespas, Veitstänze, Schlachtgesänge. „Mamma, Mamma, Mamma, weißt du, warum mein Herz so pocht? Ich habe Maradona gesehen, und, Mamma, ich habe mich verliebt!“
Das nationale Blatt „Guerin Sportivo“ wird drucken: „Heute haben sie ihren Maradona, den kleinen König, der sie allesamt auf den Rängen und Straßen krönt – den magischen Gnom, der sie über Wasser hält (…) Und man wird sich bewusst, wie desolat alleingelassen diese Stadt seit jeher vor sich hin improvisiert, wie sie sich im aquamarinen Panorama die Gefühllosigkeit der Politiker spiegelt, der Raffgier der Bosse, der banalen Fürsorge bequemer Zensoren (…), der frechen Manipulation von Gemeinplätzen. Es existiert nicht nur die Gewalt der organisierten Verbrecher, sondern auch die der Drogen, die eine Jugend ohne Ausweg bedroht. Armut und Hunger, die die Augen von Kindern aufreißen. Maradona wird mit den Geschäften in seinem Namen Tausende Münder ernähren. Er hat schon das Stadion voll lächelnder Gesichter gefüllt, mit ausschweifendem Stolz und Versprechen, dass die von der Geschichte verratene Stadt wieder einmal nur durch den Fußball auf nationales Prestige hoffen kann. (…) Ist der Maradona-Deal also wirklich ein Delikt, wie viele vorschnell proklamierten und Salz in die neapolitanischen Wunden streuten? Jene Wunden, die
sie sicherlich nicht mit ihrem anklagenden Zeigefinger schließen werden (…) Viele Journalisten kamen aus der ganzen Welt und nahmen die kunterbunte Begeisterung verständnislos zum Aufhänger der Ironie (…) Und doch ist es wegen Maradona, und allein wegen ihm, dass ihr gekommen seid.“

Dieser Text ist ein Auszug aus Oliver Birkners 2013 im Verlag Die Werkstatt erschienenen Buch "Eines Tages im Mai. Die Geschichte des SSC Neapel". Birkner lebt und arbeitet seit 2007 als Italien-Korrespondent in Florenz. Christoph Biermann schrieb in 11 Freunde über das Buch: "Eine gelungene Vereinsmonografie. … Oliver Birkner zeigt ein großes Gespür für die Tragik … und geht alldem mit angemessener Passion und Lust an süffigen Anekdoten nach."