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blog vom 18.05.2020

Der Fußball, die Gesellschaft und das Virus

(Kein) Fußball in Corona-Zeiten (9)

von Bernd Beyer

 

„Plötzlich demütig“ habe Christian Seifert sich gegeben, staunte der „Spiegel“, als das Konzept der DFL zur Fortführung der Bundesliga unter Corona-Bedingungen vorgestellt wurde. „Demütig“ ist ein seltsamer Begriff für ein Papier, das eher ein Ausdruck ist von … Arroganz? … Ignoranz? … irgendetwas in dieser Richtung. Vielleicht ist Seifert einfach ein guter Schauspieler. Oder er hält sich wirklich für „demütig“, weil er mit dem Profifußball nun mal in einer anderen gesellschaftlichen Realität lebt. Eine Realität, in der man sich wie selbstverständlich als privilegiert fühlt.

Unschöne Tradition

Das ist nichts Neues, sondern lang Ererbtes und wird daher von den Fußballmanagern wohl auch nicht mehr so recht wahrgenommen. Es begann im Grunde mit Einführung des Profitums im Zuge der Bundesliga in den 1960er Jahren. Da zeigte sich schnell, dass die Vereinsfunktionäre mit der neuen Zeit überfordert waren; reihenwiese rauschten die Bundesligaklubs in die roten Zahlen, standen vor Schuldenbergen und zählten natürlich darauf, dass ihnen die Politiker helfen würden. Das geschah dann auch. Nur ein paar Spots aus einer langen Liste: Die Stadt Bremen erlässt Werder 1971 eine Summe von 230.000 DM Steuerschulden. Die Stadt Gelsenkirchen gewährt Schalke 04 anno 1987 eine Finanzspritze von 1,3 Millionen DM. Das bayerische Finanzministerium drückt alle Augen zu, als der FC Bayern in den 1970er Jahren die offiziellen Honorare seiner Spieler aus Schwarzgeldkassen aufbessert.

Revierderby - Geisterspiel
Sonderrolle für den Fußball: Jubel vor der leeren Südtribüne nach dem 4:0-Sieg über Schalke 04.(Foto: imago)

Auch sonst können die Profiklubs bei juristisch fragwürdigem Verhalten auf große Nachsicht rechnen. Dass Spieler nach Vertragsende nicht gehen können, wohin sie wollen (sondern der Verein Ablösesummen fordern kann), wird jahrelang ebenso toleriert wie die Beschränkungen für Spieler aus dem EU-Ausland. Erst 1995 werden diese illegalen Praktiken durch das berühmte Bosman-Urteil des Europäischen Gerichtshofes gestoppt.

Wohlgemerkt: Es geht hier nicht um die Förderung des Fußballsports mit seinen segensreichen Aspekten der Jugend- und Integrationsarbeit, der alle Hilfen aus öffentlichen Kassen verdient hat. Vielmehr geht es um rechtlich zweifelhafte Hilfestellungen für das Showgeschäft Profifußball. Und das ist es auch, worauf der so „demütige“ Corona-Plan der DFL zielt.

Fragwürdige Regelungen

Tatsächlich beansprucht der Profifußball dort Sonderregeln, die dem Rest der Gesellschaft nicht zustehen:

Die Kontakteinschränkungen? Sind während des Spiels und teilweise auch im Training einfach aufgehoben.

Mannschaftsquarantäne, wenn der Spieler eines Kaders infiziert ist und aktiv am Training teilgenommen hat? Das wird sogar vom Bundesinnenminister gefordert, ist aber im Plan der DFL weiterhin nicht vorgesehen. Dort geht es nur um „Selbstisolation“ des betroffenen Spielers. Wichtiger ist der DFL: „keine automatische Meldung eines positiven Falles an die Presse“.

Andere Privilegien, die sonst kaum jemand zustehen, werden mittels Finanzkraft gesichert: 25.000 Corona-Tests (nicht für Verdachtsfälle oder medizinisches Personal, sondern einfach so). Oder Corona-gerechtes Reisen, für die das DFL-Papier beispielsweise vorsieht: „Exklusives Hotel für die Mannschaft oder exklusive Etage/Bereiche zur Vermeidung von Kontakten mit anderen Hotelbesuchern.“ Und: „Hotelpersonal sollte Mundschutz tragen und regelmäßig die Hände desinfizieren, aufgeklärt und geschult werden.“ Prima Vorschläge für den nächsten Bezirksliga-Spieltag. Oder für den Familien-Sommerurlaub an der Ostsee.

All dies versucht man herunterzuspielen und zu relativeren. Absurde Berechnungen werden angestellt: wie viele Prozent der Testkapazitäten dadurch „nur“ beansprucht würden. Oder wie selten im Verhältnis zum gesamten Spielgeschehen sich die Spieler näher kämen als 1,50 Meter. Und so weiter. Also alles harmlos. Man tue der Gesellschaft sogar einen Gefallen: Schließlich könne man den Bundesligabetrieb als medizinisches Experiment ansehen. Im Grunde, so DFB-Boss Keller, sei das Ganze doch ein Opfer, das der Fußball bringe: „Sollten die Verantwortlichen aus Politik und Wissenschaft zu dem Schluss kommen, dass Massentests ein gutes Mittel zur Eindämmung des Coronavirus sein könnten, ist der Fußball gerne bereit, hierfür seine Popularität und verbindende Kraft einzubringen. Der Fußball steht bereit, wenn er gebraucht wird.“ Als ich diesen Satz las, stockte mir ein wenig der Atem. Mehr Verdrehung der tatsächlichen Verhältnisse geht kaum.

Mundtote Spieler

In Wahrheit geht es ja keineswegs darum, der Gesellschaft einen Gefallen zu tun. Man sucht die notwendigen Finanzen, um die schillernde Blase Profifußball am Laufen zu halten und die absurd teuren Spielergehälter bezahlen zu können. BVB-Boss Watzke sagte das einigermaßen offen im Fernsehen. Natürlich bemühte er auch das Arbeitsplatz-Argument (was tausende andere und größere Unternehmen betrifft, ohne dass sie Sonderrechte beanspruchen könnten, sondern eben Kurzarbeitergeld und KfW-Kredite beantragen müssen). Im Grunde sagte Watzke aber mehr oder weniger deutlich, dass man spielen werde, weil man es so wolle, und zwar subito: „Es ist völlig ausgeschlossen, dass erst im Juni gespielt wird.“ Für seinen Auftritt schämten sich anschließend sogar die BVB-Fans und posteten Urteile wie „verantwortungslos, peinlich, weltfremd, realitätsfern, arrogant“. Zumal Watzke das tatsächliche Risiko für die Spieler reichlich relativierte: „Wir sollten es auch nicht übertreiben. Die Gesundheitsgefahr für eine Profi-Mannschaft würde ich als nicht so gravierend einstufen.“

Fachleute wie der Sportmediziner Wilhelm Bloch von der Deutschen Sporthochschule Köln widersprechen da vehement. „Wir wissen, dass das Virus den Körper verändert und Langzeitschäden verursachen kann. Das macht mir am meisten Bedenken.“ Er habe „Angst davor, dass sich ein Spieler im Spielbetrieb infiziert und einen schwerwiegenden Verlauf hat. Dann sind bleibende Schäden nicht zu vermeiden.“ Das gelte auch für infizierte Spieler, die frei von Symptomen seien. Und der Kardiologe Tienush Rassaf, Direktor am Universitätsklinikum Essen, weist darauf hin, „dass SARS-CoV-2 zu lebensgefährlichen Herzmuskelerkrankungen führen kann“. Leistungssport sei „eine Stress-Situation für den Körper“, sagt der Professor, der zahlreiche Leistungssportler betreut: „Die Abwehrfunktion des Körpers ist in bestimmten Situationen geschwächt.“

Kein Wunder, dass vielen Spielern dabei unwohl ist. Die DFL-Taskforce plädiert zwar vage für „eine Freiwilligkeit der Trainings- und Spielteilnahme“, weist aber zugleich auf die „üblichen Spielerverträge“ hin, die offenbar anderes vorsehen, weshalb „zu diskutieren“ sei. Wie in der Praxis mit Spieler-Kritik verfahren wird, zeigt das Beispiel von Kölns Profi Birger Verstraete, der seine Befürchtungen wieder einkassieren musste. Ebenso zeigen es Meldungen von RB Leipzig, wo laut „Spiegel“ einige Spieler „Sorgen und Bedenken bezüglich des Infektionsrisikos geäußert“ hätten. Der Verein teilte dann offiziell mit, es habe sich nur um „Fragen“ gehandelt, und die seien jetzt ausgeräumt. Na klar.

Immerhin gibt es noch Spielerkritik daran, dass man bei der Entscheidung nicht angehört wurde. Neven Subotic moniert: „Wir wurden nicht konsultiert.“ Ähnlich äußerten sich Marc Lorenz vom Karlsruher SC, Torhüter Lukas Hradecky von Bayer Leverkusen und Ulf Baranowsky, Vorsitzender der Spielergewerkschaft VdV: „Gerade in schwierigen Phasen müssen Spieler besser eingebunden werden.“

Kann man formulieren, DFL/Vereine hätten sich eigenmächtig das Recht genommen, die eigentlich bindenden Kontaktbeschränkungen zu missachten? Und die Spieler (die unmittelbar Gefährdeten also) ungefragt gezwungen, diese Regelverletzung mitzumachen und ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen? Formal juristisch mag alles unanfechtbar sein (ich weiß es nicht), aber läuft es nicht faktisch auf solch krasse Anmaßungen hinaus?

Wenig Verständnis in der Gesellschaft

Die zuständigen Politiker haben (mal wieder) alles abgesegnet, weshalb nun also Geisterspiele stattfinden. Doch im gesellschaftlichen Diskurs sieht es anders aus: Da hat der DFL und den Vereinen alles Taktieren wenig geholfen. Im Gegenteil: Je mehr von ihren Plänen bekannt wurde, desto lauter wurde die Kritik. Sogar Sportkolleginnen wie die Kugelstoßerin Christina Schwanitz meinen: „Ich finde es nicht schön, dass der Fußball eine Sonderrolle einnimmt und sich über alles hinwegsetzt, nur weil die Reibung zwischen Daumen und Zeigefinger stimmt.“

Auch Sportphilosoph Gunter Gebauer kritisiert die Sonderrolle des Fußballs: „Gesang, Theater, Schauspiel, im Wirtshaus zusammensitzen – alles, wo es zu Nähe und Körperkontakt kommt, ist strikt verboten. Und dann wird ein Vollkontaktsport wie Fußball ausgeübt? Bei anderen Sportarten wie Rudern, Gewichtheben oder Golf, wo man Abstand halten kann, wird über Wettkämpfe gar nicht erst nachgedacht.“

Ethikrat-Mitglied Steffen Augsberg sagt: „Mich wundert, dass wir auf die Bundesliga-Debatte so viel Energie verwenden. Sie ist ein Beispiel für geschicktes Lobbying.“

Und der Bremer Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) merkt resignierend an: „Es war für mich nicht überraschend, dass es zu einer Vorzugsbehandlung des Profi-Fußballs kommen wird. Das war absehbar.“ Doch der Start der Bundesliga sei „ein unsägliches Signal und eine politisch falsche Entscheidung. Die wirtschaftlichen Belange der Deutschen Fußball Liga haben Vorrang vor allem anderen. Das versteht doch kein Mensch mehr.“

Dass „der Fußball“ – wohlgemerkt der Profifußball – mit der Fortführung seines Betriebs unserer Gesellschaft einen Dienst erweise, nehmen ihm immer weniger Menschen ab. Zeigten Umfragen noch im März, dass die Mehrheit der Befragten eine Fortführung der Bundesligasaison befürworteten, so haben sich diese Verhältnisse inzwischen umgekehrt. Laut letztem ARD-Deutschlandtrend vom 14. Mai lehnen nun 56 Prozent das DFL-Vorgehen ab, nur 31 Prozent sind noch dafür, dem Rest ist’s egal.

Die Charmeoffensive der DFL ist in ihr Gegenteil umgeschlagen, man sieht den Profifußball in seiner gegenwärtigen, pervertierten Form kritischer denn je, und zwar auch unter den Fans, bei denen nicht wenige Gruppen ebenfalls den Abbruch der Saison fordern. Womit sich die DFL tatsächlich beschäftigen müsste, statt ums kurzfristige Geldeintreiben: Was muss sich strukturell ändern, damit es einen gesellschaftlich akzeptierten Profibetrieb gibt? Und aktuell: Was passiert, wenn die Corona-Situation im Herbst nicht besser wird? Es ist nicht ausgeschlossen, dass die neue Saison unter den gleichen Bedingungen starten müsste, wie die jetzige weiterläuft. Also wenn es mit rechten Dingen zuginge: gar nicht.

 

Bernd Beyer hat 1981 mit zwei Freunden den Verlag Die Werkstatt gegründet und war bis zum Eintritt in den Ruhestand 2015 verantwortlich für Programm und Lektorat.

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