Shitstorm im vordigitalen Zeitalter | Verlag Die Werkstatt Direkt zum Inhalt
blog vom 25.11.2016

Shitstorm im vordigitalen Zeitalter

Von Bernd-M. Beyer – All die absurden Hasskommentare, die heute durchs Internet geistern, bilden kein neues Phänomen ab, sondern machen nur deutlicher sichtbar, was auch im vordigitalen Zeitalter existierte. Anschauliche Beispiele dafür liefern einige prall gefüllte Ordner, die sich im DFB-Archiv finden. Sie stammen aus dem Nachlass des ehemaligen Bundestrainers Helmut Schön und datieren aus den siebziger Jahren. Neben harmlosen Autogrammwünschen, netten Glückwünschen, besserwisserischen Vorschlägen für Mannschaftsaufstellungen und höchst widersprüchlichen Verschwörungstheorien („Wieviel zahlen Ihnen die Bayern!“ versus „Was haben Sie gegen die Bayern???“) erreichten Helmut Schön auch Zuschriften, deren Tonlage seinerzeit meist nur an rechten Stammtischen, heute aber eben im Internet zu Hause ist. Man kennt den Mechanismus: Ein frustriertes Gemüt findet endlich ein Objekt seiner Wut und tobt sich an ihm aus. Heute sind es die Flüchtlinge, Moslems, Merkel und die Lügenpresse. In den sechziger und siebziger Jahren waren es die Langhaarigen. Wer es damals nicht selbst miterlebt hat, kann kaum nachvollziehen, welche hasserfüllten Reaktionen junge Männer mit langen Haaren provozierten. Die Neigung, das Haupthaar sprießen zu lassen, war Mitte der sechziger Jahre als Teil der neuen Popkultur nach Deutschland gelangt und signalisierte anfangs durchaus mehr als Jugendkultur und Generationenkonflikt. Man trug die langen Haare auch aus einer Protesthaltung heraus – gegen eine durch strenge Autoritäten und verstaubte Rituale strukturierte Gesellschaft, die moderne Liberalität erst noch lernen musste. Das männliche Haar hatte damals kurz, gescheitelt und in Reih und Glied gelegt zu sein, und wer davon abwich, war eben ein verdächtiger Außenseiter, ein „Gammler“, „Hippie“, ein Gefährder von Zucht, Ordnung und christlichem Abendland.

„Zugewachsene Affen“

Schon bald wurde das lange Haar zum jugendlichen Mainstream. Wer „in“ (bzw. „hip“) sein wollte, ließ es sprießen. Anfang der Siebziger kam die Mode bei den Fußballern an, und nochmals fünf Jahre später lief sogar der erzkonservative Gerhard Mayer-Vorfelder mit einer Matte herum. Eine politische Botschaft war nicht (mehr) damit verbunden, doch im Zeichen der gesellschaftlichen Polarisierung, die jene Jahre prägte, hielten sich dumpfe Vorurteile hartnäckig. Davon zeugen jene Zuschriften, die Helmut Schön in den siebziger Jahren erreichten und aus denen im Folgenden einige Passagen zitiert sind: „Wenn Sie und Ihre Spieler mehr Zuschauer haben wollen, dann schicken Sie Ihre zugewachsenen Affen zunächst zum Frisör und dann in die Badewanne.“ „Viele [Spieler] tragen schon das Negativ-Mal der Dekadenz und laufen mit wallender Haarpracht in die Stadien ein. Interessant zu wissen wäre, ob ihnen die Mähne arg zu schaffen macht beim Spiel; kaum anzunehmen ist eine Steigerung der Leistung.“ „Ihre ‚Fussballstars‘ sollen einmal in den Spiegel schauen, ob sie noch unterscheiden können, ob die Herren Männlein oder Weiblein sind! Ich kann nur sagen, direkt widerlich. Ich für meine Person muss mich schon anstrengen, ein Fussballspiel mit diesen ‚Neandertalern‘ anzusehen.“ „Wenn wir Netzer sehen … dann schmeckt uns das Abendbrot nicht mehr, der hat ja wohl Haar-Geschmacksverirrung. Ebenso Breitner, der aussieht wie ein Uran-Utan [sic]. Können Sie nicht einen Haarerlaß anbringen?“ „Sehen aus wie montenegrische Hammeldiebe, deren Häuptling Müller sein könnte. Sehen aus wie Strolche und nicht wie Deutschland vertretende Nationalmannschaft. Runter mit den Wegelagerer-Frisuren!“ Und schließlich befand ein „T.H.“ aus dem „Südoldenburger Raum“: „Diese Haare sehen nach Gammlern aus und man nennt ihn ja auch den Gammlerschnitt. […] Allein schon aus Gründen der Hygiene sollten die Spieler nur kurz u. normal geschnitten antreten.“ Unterschrieben ist der Brief, statt eines Namens, mit: „Ein alter Fußballer, der immer am Bildschirm mit dabei ist, und der im Hinblick auf meine Bitte sich zum Sprecher unzähliger Zuschauer macht.“ Ich bin das Volk, sozusagen.

„Landesverräter I. Klasse“

Auch sonst gab das Benehmen mancher Spieler Anlass zur Klage: „Beim Spiel gegen Mönchengladbach schoss Hoeneß ein Tor. Dieser legte sich mit dem Rücken auf den Boden und dann der Showmann Müller obendrauf.“ Der Absender fragte sich, ob „Homosexuelle am Werk“ gewesen seien, oder ob sich „bei den beiden der Verstand ausgeschaltet“ habe. Vor allem der vermeintliche „Linke“ Paul Breitner geriet ins Visier der Wutbürger, nachdem er sich wenige Male abfällig über die DFB-Oberen geäußert hatte: „Stimmt die Aussage, ist Breitner für mich und unsere Fussballfreunde ein Landesverräter I. Klasse. Für solche Menschen müsste es Landesverbot geben.“ „Dem jungen Mann wäre zu wünschen, daß ihm statt seiner zu vielen Haare etwas mehr Gehirn nachwachsen würde.“ Und sowieso: „Der Mao-Breitner passt nicht zu den Charakteren der Nationalmannschaft.“ Das, so meint ein anderer aufrechter Deutscher, gelte erst recht für Günter Netzer, denn der sei „einer der undeutschsten Sportler“.

„Wie eine Kuh, die wiederkäut“

Besonders undeutsch verhielten sich die Kicker beim Abspielen der Nationalhymne. In den siebziger Jahren war es nicht üblich, dass sie die Hymne mitsangen. Sie schauten mehr oder weniger ernst vor sich hin, manche mampften auf Kaugummi herum. Vor allem beim EM-Finale im Juni 1976 stieß dies vielen Fernsehzuschauern sauer auf, und auch an Helmut Schön hagelte es empörte Zuschriften über „das traurige Bild“, „die Taktlosigkeit“, das „lümmelhafte Benehmen“, bei dem es dem Zuschauer „kalt über den Rücken läuft“. Gertrude L. befand: „Herr Bonhof z.B. benimmt sich wie eine Kuh, die wiederkäut. […] Nun ja, in der Bundesrepublik ist eben alles anders, als es in Deutschland Sitte war.“ Im November 1977, ein gutes halbes Jahr vor der WM 1978, schrieb ein anderer: „Es handelt sich um das letzte Länderspiel gegen die Schweiz! Beim Abspielen der Nationalhymne sah man Ihre Spieler Kaugummi fressend ungerührt und gelangweilt im Gliede stehen! […] Wenn man so etwas sieht, dann möchte man geradezu wünschen, daß die sog. Deutsche Nationalmannschaft gleich in den ersten Spielen herausfliegt.“ Das passierte so nicht, in Argentinien 1978, aber immerhin etwas später gegen Österreich, und das war Strafe genug. Am Ende wurde Helmut Schön, ein gebürtiger Dresdner, selbst als vaterlandsloser Geselle enttarnt, und zwar durch Gerhard G. aus Wiesbaden, „Polizeibeamter i.R.“. Anfang der neunziger Jahre war das. Deutschland war wiedervereinigt, Bundestrainer Schön längst im Ruhestand, da fiel Herrn G. noch etwas ein: „Wo haben Sie mit der WAFFE in der Hand für unser Vaterland DEUTSCHLAND in der Front gestanden! Sie Drückeberger sollten sich vor uns und unserer Jugend schämen. Sie sollten wieder dort hingehen wo Sie her sind: DDR. Sollche [sic] Menschen kann man hier nicht gebrauchen.“ 55 Jahre hat der Polizeibeamte i.R. gebraucht, um das mal loszuwerden.  

Bernd-M. Beyer hat vor kurzem im Verlag Die Werkstatt das Buch „Helmut Schön – Eine Biografie“ veröffentlicht.    

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