Eine EM ohne Holland – über die Krise des niederländischen Fußballs | Verlag Die Werkstatt Direkt zum Inhalt
blog vom 17.06.2016

Eine EM ohne Holland – über die Krise des niederländischen Fußballs

von Kieran Schulze-Marmeling – „…Oranje ist eine mitleiderregende Mannschaft, die auf einem Endturnier nichts mehr zu suchen hat. Die niederländische Mannschaft anno 2015 erweckt den Eindruck eines steuerlosen Schiffs. Fußballerisch, beim Coaching, bei der Widerstandskraft, bei der Zweikampfstärke, beim technischen Vermögen und bei der Kreativität. Eigentlich bei allem.“ So Willem Vissers in der niederländischen Zeitung „De Volkskrant“ nach dem Scheitern der Elftal in der EM-Qualifikation. Die öffentlichen Reaktionen auf diesen Tiefpunkt der jüngeren niederländischen Fußballgeschichte dokumentierten ein großes Spektrum negativer Gefühle. Von Trauer, Wut und Pessimismus bezüglich der Zukunft der eigenen Nationalmannschaft bis hin zu Resignation und Häme. So titelte das Satire-Blatt „De Speld“ bereits eine mögliche Abmeldung der Elftal vom offiziellen Spielbetrieb: „De KNVB stopt met Nederlands voetbalelftal.“ Mag das für ein satirisches Magazin noch wenig ungewöhnlich sein, so erschien die Nüchternheit, mit der eine breite Öffentlichkeit das vermeintlich unerwartete Scheitern anschließend hinnahm, doch verwunderlich. „Ich sehe keine Nation in tiefer Trauer“, fasste Professor Dr. Friso Wielenga, Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, die öffentliche Stimmung zusammen. Ein verwunderlicher Zustand, betrachtet man, wie ungewöhnlich diese Situation doch eigentlich ist für die Niederlande. Um die Tragweite aufzuzeigen, sei erwähnt, dass sich die Elftal letztmals 1984 nicht für eine Europameisterschaft qualifiziert hatte. Bedenkt man nun, dass die Europameisterschaft 2016 die Erste ist, zu der 24 Mannschaften zugelassen sind und die Niederlande mit Tschechien, Island und der Türkei an Mannschaften gescheitert ist, die nicht zur Elite des europäischen Fußballs gehören, lässt dies das Ausscheiden gravierender als einen einmaligen Ausrutscher erscheinen.

Hausgemachte Probleme

Die momentane Krise des niederländischen Fußballs ist weder plötzlich aufgetaucht, noch lässt sie sich kurzfristig lösen. Zwar ist das Potenzial der Nationalmannschaft sicher nicht so schlecht, wie es das Scheitern in der Europameisterschaftsqualifikation vermuten lässt. Dennoch ist offensichtlich, dass die Niederlande auf vielen Ebenen des Fußballs stagniert oder sich sogar zurückentwickelt. Sicher sind einige der Probleme, welche die Misere ausgelöst haben, nicht selbstverschuldet. Der Absturz des Klubfußballs lässt sich beispielsweise simpel über den finanziellen Faktor erklären. Dass die Vereine der Eredivisie international keine große Rolle mehr spielen, ist angesichts der immensen wirtschaftlichen Vorteile der Klubs aus den großen Ligen in Deutschland, England und Spanien gegenüber den Niederländern, völlig normal. Insbesondere, da bei den großen Vereinen nicht mehr nur in die besten Spieler investiert wird, sondern auch in Trainer und Strukturen. Des Weiteren haben andere Länder aufgeschlossen, indem sie ihre eigene Arbeit auf den Prüfstand gestellt und sich sogar mit Hilfe niederländischer Expertise weiterentwickelt haben. Dazu muss sich die Niederlande auch mit der Konkurrenz aufstrebender kleinerer Länder auseinandersetzen, die ihre Ausbildungsarbeit ebenfalls optimiert haben. Beispiele hierfür sind die Schweiz, Belgien oder auch Island. Dennoch sind die meisten der Probleme hausgemacht. Sie zu lösen, dürfte ein steiniger Weg werden, da ihr Ursprung in der eigenen Vergangenheit liegt. Die Niederlande hat sich für ein verhältnismäßig kleines Land einen außergewöhnlichen Stellenwert im Weltfußball erarbeitet. Figuren wie Rinus Michels und Johan Cruyff hatten prägenden Einfluss auf die Entwicklung des Spiels. Dazu kamen große Mannschaften, wie die Nationalmannschaften bei der Weltmeisterschaft 1974, der Europameisterschaft 1988 und der Weltmeisterschaft 1998. Letztere wird häufig sogar als die beste Elftal aller Zeiten angesehen. Dazu fielen wiederholt sportliche Highlights zusammen mit gesellschaftlichen Veränderungen. Sei es die sanfte Revolution der 1960er Jahre, die gemeinsam mit der Entwicklung des „totaalvoetbal“ dafür sorgte, dass dem niederländischen Fußball eine Bedeutung über den Sport hinaus zugesprochen wurde. Oder die niederländische Nationalmannschaft als Vorbild für Toleranz und Multikultur in den 1980er und 1990er Jahren.

Die Last der Vergangenheit

Es entstand das Gesamtbild einer kleinen Nation, die sich durch Innovationsfreudigkeit, Fortschrittlichkeit und Offenheit immer auf ein Niveau bringen konnte, das es ermöglichte, sich mit den großen Konkurrenten und deren eigentlich besseren Möglichkeiten zu messen. Heute lässt sich sagen, dass diese Prägung der niederländischen Fußballwelt der eigenen Entwicklung schadet. Viel zu oft ruhte man sich auf dem guten Ruf aus und trug diesen durchaus mit Stolz, was die Sinne für die notwendige Weiterbildung und Entwicklung entschärfte. Eine Anpassung an neue Bedingungen im modernen Fußball hielt man nicht für nötig. Ein großes Problem dabei ist sicher, dass in den Niederlanden noch viele Akteure in der Verantwortung stehen oder wichtiger Teil der öffentlichen Diskussion sind, die alle großen Momente des niederländischen Fußballs miterlebt haben. Deshalb war bei jedem großen Turnier die Spielweise ein großes Thema. Dabei sollte die Diskussion um die Nationalmannschaft von der um die grundsätzliche Ausrichtung des Fußballverbands und dessen Ausbildungsstrukturen getrennt werden. Denn bei einem Turnier, wo der Trainer kaum Möglichkeiten hat, eine Mannschaft wirklich zu formen, kann es nur um Pragmatismus und dementsprechend um das Ergebnis gehen. Unabhängig davon muss über die generelle Ausrichtung des niederländischen Fußballs zu diskutieren. Denn am Ende steht und fällt alles mit der Ausbildung der Jugend. Hier wird über die Qualität entschieden, mit welcher der Trainer der Nationalmannschaft schlussendlich arbeiten kann. Und dass diese nun bereits über einen größeren Zeitraum hinweg weniger Spieler von absolutem Topniveau hervorbringt, ist der besorgniserregendste Punkt der aktuellen Krise. Denn am Ende steht und fällt auch das Selbstverständnis des niederländischen Fußballs mit dem Erfolg – und sei es nur indem der eigene Fußball wieder attraktiver und offensiver wird. Um die Krise zu bewältigen, bedarf es nun die Bereitschaft, alles auf den Prüfstand zu stellen. Als Vorbild können dafür ausgerechnet zwei große Konkurrenten dienen. Auf der einen Seite Belgien, die es als noch bevölkerungsärmeres Land geschafft haben, sich bis in die Weltspitze hochzuarbeiten. Auf der anderen Seite Deutschland, das gezeigt hat, wie man sich aus einer vergleichbaren Krise kontinuierlich zurück auf das höchste Niveau bringen kann. Dafür braucht es in den Niederlanden die Bereitschaft, sich für Entwicklungen und Inhalte aus dem Ausland zu öffnen und diese mit den eigenen Stärken zu kombinieren.

Taktischer Dogmatismus

In einem derartig schnelllebigen Geschäft ist es schwer nachzuvollziehen, dass eine Nationalmannschaft der 1970er Jahre noch Einfluss auf die Bewertung der Heutigen hat. Aber der „totaalvoetbal“ dient auch heute noch als Referenz für alles, was im niederländischen Fußball passiert. Das dogmatische Festhalten am „totaalvoetbal“ führt in der Konsequenz zu verschiedenen Problemen. Zunächst einmal resultiert daraus eine immense Erwartungshaltung, die sich nicht über Ergebnisse befriedigen lässt, sondern nur durch eine Spielweise in der Tradition des „totaalvoetbals“. An dieser Stelle lassen sich auch die Erfolge bei den Weltmeisterschaften 2010 und 2014 relativieren. Bei genauerer Betrachtung sind sie tatsächlich zentraler Bestandteil der niederländischen Identitätskrise. Denn erfolgreich war die Niederlande zuletzt nur, wenn sie von ihrem eigenen Ideal abwich. Bert van Marwijk (2010) und Louis van Gaal (2014) ließen tief und hart verteidigen und setzten auf schnelle Konter und individuelle Klasse im Angriff.

Van Marwijk und van Gaal sahen sich trotz ihrer Erfolge großer Kritik ausgesetzt. Dabei spielte auch eine Rolle, dass beide vom landestypischen 4-3-3 abgewichen waren. Während van Marwijk auf ein 4-2-3-1 setzte, ließ van Gaal gegen den Ball ein 5-3-2 spielen. Auch das löste Diskussionen aus. Das 4-3-3-System gilt für viele Niederländer als unantastbar. Aber auch hier scheint der Verdacht berechtigt, dass in erster Linie die Akteure daran hängen, die den „totaalvoetbal“ noch erlebt und genossen haben. Freiburgs Trainer Christian Streich, der als einer der besten Ausbilder von jungen Spielern in Deutschlang gilt, antwortete auf die Frage danach, ob eine Fokussierung auf solche taktischen Systeme noch zeitgemäß sei, Folgendes: „Wenn wir früher mit meinen Jugendmannschaften gespielt haben, und der eine sagte hinterher, das war 4-4-2, der andere hatte ein 4-2-3-1 gesehen, der Nächste ein 4-5-1, dann war das für mich eine große Freude. (…) Weil das hieß, dass wir nicht mehr erkennbar waren. Dass wir nicht stur gespielt haben, sondern flexibel. Ich will nicht Fußball spielen wie auf einer Eisenbahnschiene, da wären wir viel zu eingeschränkt. Dann wären wir total durchschaubar, das wäre langweilig.“ Marti Perarnau, der Biograf von Pep Guardiola, unterstützt diese Sichtweise: „Verändere dich dauernd, weil sich die anderen dauernd verändern. Ob formativ oder von den Bewegungen, ganz egal.“

Überhaupt war der FC Bayern unter Pep Guardiola wohl das beste Beispiel dafür, wie unbedeutend die Zahlenspiele sind, mit denen versucht wird, Systeme greifbar zu machen. Experten scheiterten wöchentlich daran, das Spiel der Bayern in eine solche Zahlenkombination zu pressen. Viel entscheidender sind heute Zonen und Räume, die es zu bespielen oder zu pressen gilt. Und das können jede Woche andere sein. Die 4-3-3-System ist genauso aktuell wie jedes andere auch. Die Dogmatisierung eines Systems ist jedoch völlig überholt. Einen guten Trainer zeichnet aus, die Mannschaft so aufzustellen, dass die Stärken der Spieler zur Geltung kommen und ihre Schwächen so gut wie möglich kaschiert werden. Als Vereinstrainer kann man Mannschaften sicherlich noch eher nach den eigenen Vorstellungen und Idealen formen. Als Nationaltrainer fehlt dazu die Zeit. Van Marwijk und van Gaal waren Realisten und Pragmatiker. Die Qualität der Spieler gab in ihren Augen nicht genug her, um „totaalvoetbal“ zu spielen. Van Gaal sah in der Mannschaft von 2014 nur wenige Spieler von herausragender Qualität. Einzig Arjen Robben stach mit seiner Weltklasse hervor. Insbesondere in der Verteidigung fehlte dieses Niveau aber. Daher verstärkte er die Verteidigung personell, indem er mehr defensive als offensive Spieler aufstellte. Somit verteilte er die Verantwortung und kaschierte individuelle Schwächen durch ein Mehr an Absicherung und Unterstützung. Dafür nahm er in Kauf, in der Offensive mit weniger Spielern anzugreifen. Indem er die Mannschaft aber relativ nah vor dem eigenen Tor verteidigen ließ, öffnete er Räume im Rücken der gegnerischen Verteidigung. Dies kam wiederum Arjen Robbens Sprintqualitäten zugute, der damit immense Verantwortung im Angriffsspiel bekam. Die eigentliche Frage, die sich demnach hätte stellen müssen, wäre nicht die nach der Arbeit der Trainer gewesen, sondern die nach der Qualität der Spieler. Denn die waren für den typisch niederländischen Fußball anscheinend nicht mehr gut genug. Was wiederrum die Frage nach der gepriesenen niederländischen Nachwuchsausbildung aufwirft.

Ausbildung hat an Qualität eingebüßt

Es ist offensichtlich, dass die Niederlande nicht mehr in der Fülle wie früher Spieler von internationalem Topniveau produziert. Aktuell stehen mit Arjen Robben bei Bayern München sowie Memphis Depay und Daley Blind bei Manchester United nur drei Niederländer bei großen Teams unter Vertrag. Zum Vergleich: Bei der Europameisterschaft 2004 waren es noch elf Spieler, bei der Weltmeisterschaft 2006 immerhin noch sechs. Besonders auffällig ist dabei der Mangel an qualitativ hochwertigen Spielern im Alter von 24 bis 29 Jahren. Mit Robben, Wesley Sneijder und Robin van Persie gibt es ältere Spieler, die noch oder früher einmal zur Elite auf ihren Positionen gehörten. Darunter folgt wieder eine Generation an hoffnungsvollen Spielern, wie Depay, Kenny Tete oder Terence Kongolo, die sich aber erst noch beweisen muss. Dazwischen aber, im vermeintlich besten Fußballalter, gibt es keine Spieler von gehobener internationaler Klasse. Wie wichtig eine solche Achse von Spielern, die sich in der Blüte ihrer Laufbahn befinden, für eine Mannschaft ist, zeigte Deutschland bei der Weltmeisterschaft 2014. Acht von elf Spielern aus der Stammelf des Weltmeisters, kamen aus diesen Jahrgängen. Zwar gibt es, wie bereits erwähnt, durchaus talentierte Spieler in den Jugendnationalmannschaften. Aber nicht mehr in der Quantität, die man einst gewohnt war. Tatsächlich qualifizierte man sich nur für eine der letzten U21-Europameisterschaften und für keine der letzten fünf U20-Weltmeisterschaften – eine desaströse Bilanz. Es ist offensichtlich, dass die niederländische Ausbildung an Qualität eingebüßt hat. Es gibt einige Dinge, die diesen Trend in der niederländischen Ausbildung beeinflusst haben und noch weiter beeinflussen werden, für die in den Niederlanden niemand verantwortlich gemacht werden kann. Auch hierfür findet man einen Grund in der Unterlegenheit der niederländischen Liga im internationalen Vergleich. Dementsprechend wenig Geld fließt in sie hinein. Grundsätzlich lässt sich das auf das Bosman-Urteil von 1995 zurückführen. Die niederländischen Vereine spürten unmittelbar die Konsequenz. Sobald die Spieler ein gewisses Niveau in der heimischen Liga erreicht hatten, wurden sie vom finanzstärkeren Ausland abgeworben. Der Nationalmannschaft schadete das allerdings zunächst nicht. Die Spieler sammelten Erfahrungen und konnten sich in den Topklubs täglich mit den besten Spielern der Welt messen. Die eigene Liga diente also als Plattform, um sich für die besten und finanzstärksten Vereine und Ligen der Welt zu präsentieren. Doch der Fußball hat sich in den letzten 15 Jahren rasant entwickelt und insbesondere das Geld ist stetig mehr geworden. Dadurch haben sich auch für die niederländischen Vereine die Dinge verändert. Das Scouting der Klubs setzt heutzutage viel früher ein. Es kommt nicht mehr infrage, dass sich ein großes Talent bei einem niederländischen Klub die notwendige Reife und das Selbstvertrauen holt, indem es für einige Jahre dort spielt und dann als immer noch junger, aber gestandener Spieler ins Ausland wechselt. Das Risiko, dass ein anderer Verein den Spieler dann vorher verpflichtet, ist zu groß. Somit beginnt das Abwerben junger Spieler bereits, während sie noch für die Jugendteams spielen. Die Talente wechseln in die Reserveteams der ausländischen Vereine, weil sie dort schon besser bezahlt werden als bei niederländischen Profiklubs. Nur sind sie dort einer viel größeren Konkurrenzsituation ausgesetzt, und das mit der Begleiterscheinung, im Alter von 16 Jahren weit von zu Hause entfernt mit einem enormen Leistungsdruck umgehen zu müssen. Daran scheitern logischerweise einige Talente. So entsteht ein Teufelskreis, der nur schwer zu durchbrechen sein wird. Die niederländischen Vereine reagieren darauf, indem sie junge Talente aus Skandinavien oder Südamerika verpflichten. Indem man diese Spieler entwickelt und weiterverkauft, hält sich der Ruf als Entwicklungsliga. Doch selbst hier wird die Konkurrenz größer werden. Denn auch deutsche und englische Zweitligisten intensivieren nun ihr Scouting in diesen Ländern. Und die niederländischen Topklubs mal ausgenommen, ist selbst in Deutschlands und Englands zweiten Ligen deutlich mehr Geld im Umlauf als in den Niederlanden. Bezeichnenderweise sind die wohl bekanntesten beiden Spielerexporte der Eredivisie in den letzten 15 Jahren keine Niederländer. Zlatan Ibrahimovic und Luis Suarez wechselten beide von Ajax Amsterdam aus ins Ausland und wurden zu Weltstars. Dennoch ist der Rücklauf an großen Talenten nicht allein anhand dieses Teufelskreises festzumachen. Nachbar Belgien beispielsweise verfügt über eine vermutlich noch schwächere nationale Liga, produziert seit einigen Jahren aber eine enorme Menge an außergewöhnlichen Fußballern. Island ist ein weiteres Beispiel. Als Nation mit nur 330.000 Einwohnern haben sie die Ausbildung auf ein solches Niveau gehoben, dass es ihnen möglich ist, sich mit den Großen zu messen und sich nicht nur für die Europameisterschaft zu qualifizieren, sondern die Qualifikationsgruppe beinahe sogar zu gewinnen.

Arroganz blockiert

Tatsächlich hat die jüngste Krise aber auch eine Diskussion über den Status als führendes Ausbildungsland in Gang gesetzt. Die Nachwuchsarbeit, die jahrzehntelang unantastbar schien, wird in den letzten Jahren immer stärker infrage gestellt. Bereits im Dezember 2014 bemängelte der Journalist Barry van der Hooft in der Zeitung „De Twentsche Courant Tubantia“, dass die Nachbarländer Deutschland, Belgien und Frankreich stetig auf der Suche nach Weiterentwicklung in der Jugendausbildung seien, während die Niederlande stillstehen würden. Eddy Achterberg (lange Jahre bei Twente Enschede aktiv, anschließend Co- und Jugendtrainer u.a. bei Twente und Schalke sowie Scout) stimmt dieser Sichtweise im Interview mit dem Autor dieses Beitrags zu. Die Vergangenheit habe dazu geführt, dass man sich in den Niederlanden eine Arroganz angeeignet habe, die Entwicklungen blockiere.

Die jahrzehntelang währende Vorreiterrolle hat dazu geführt, dass man sich einer Weiterentwicklung verschlossen hat. Stand die Niederlande einst noch für Innovation, so scheint sie die Notwendigkeit stetiger Entwicklung nun ignoriert zu haben, frei nach dem Motto: Im Erfolg werden die größten Fehler gemacht. Dabei wurden einige Mängel in der Ausbildung schon vor vielen Jahren angesprochen. Ausgerechnet Rinus Michels wies in seinem Buch „Teamcoaching“ schon 2004 darauf hin, dass es in den Niederlanden keine Kultur in der Ausbildung von Verteidigern gebe. Dies würde auf höchstem Niveau eine ernste Gefahr für das Ergebnis darstellen. Auch Eddy Achterberg sieht in der Schulung des Defensivverhaltens die größten Mängel in der Jugendarbeit. Das gute Verteidigen als Basis des offensiven Spiels würde einfach ignoriert werden. Der Mangel an individueller Qualität in der Defensive ist keine neue Erscheinung und dennoch erst nach dem Desaster der verpassten EM-Qualifikation endgültig in der öffentlichen Diskussion angekommen.

Das Ende des Export-Weltmeisters

„Die anderen Länder haben von den Niederlanden gelernt, die Niederlande aber nicht genug von den anderen Ländern. (…) Das Problem ist die Arroganz. Der niederländische Fußball glaubt, schlauer zu sein als der Rest der Welt. Aber er ist es nicht mehr.“ So sieht es der Journalist Elko Born. Es scheint, als sei man in den Niederlanden noch gefangen in der Vergangenheit, in der man als kleines Land, aber große Fußballnation den Rest der Welt mit Ideen und Akteuren versorgt hat. Noch heute geht es in beinahe jeder Diskussion um die niederländische Schule und den niederländischen Fußball. Dabei verlieren solche Bezeichnungen in einer globalisierten Fußballwelt immer mehr an Bedeutung. Spaniens Nationaltrainer Vicente del Bosque gab in einem Interview an, nicht mehr an spezielle nationale Stile zu glauben. Man dürfe nicht in einer Blase leben, sondern müsse sich immer interessiert und offen dafür zeigen, was in anderen Ländern passiere. In den Niederlanden hat man das offensichtlich aus einer Haltung der Arroganz heraus nicht für nötig gehalten. Dadurch, dass in anderen Ländern nun auch hervorragende Nachwuchsarbeit geleistet wird, haben die Niederlande ihren Status als Exportweltmeister eingebüßt. Dazu kommt, dass sich die Inhalte in der Ausbildung ohnehin immer weiter angleichen und Unterschiede nur noch im Detail zu finden sind. Die Niederländer scheinen dies nur schwer akzeptieren zu können, denn in der Konsequenz sind sie die einzigen, die durch diese Entwicklung ein Alleinstellungsmerkmal verlieren.  

Kieran Schulze-Marmeling ist Nachwuchstrainer bei Preußen Münster  

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