blog vom 07.12.2022
„Hallo Dirk, hier ist Andoni Goikoetxea"
Als Erstlingsautor macht man diverse Erfahrungen, die einen wahrscheinlich mehr beeindrucken als den erfahrenen Vielschreiber. So rechnete ich beispielsweise nicht damit, dass einige Leute beim Kauf meines Buchs „Athletic Club Bilbao. Aus Prinzip einzigartig“ wohl eine wissenschaftliche Abhandlung über den baskischen Nationalismus erwarteten, und dann enttäuscht waren, als sie merkten: Wo Fußball draufsteht, ist ja auch hauptsächlich Fußball drin – wenn auch natürlich mit vielen politischen Aspekten. Noch weniger allerdings rechnete ich mit dem Anruf eines 39-fachen spanischen Nationalspielers, der meinen Text über sich im Buch gelesen hatte.
Wenige Minuten nach dem Ausscheiden der spanischen Nationalelf aus der WM in Katar klingelte mein Handy. „Hallo Dirk, hier ist Andoni Goikoetxea. Ich wollte mich kurz für das Buch bedanken.“ Das hatte ich ihm über einen gemeinsamen Kontakt aus dem Klubumfeld zukommen lassen – mit einem Anruf rechnete ich dennoch nicht. Er sagte, der Text über ihn habe ihm sehr gefallen und bot mir an, etwas über das Buch in seinen sozialen Netzwerken zu posten. Wir sprachen noch einige Zeit weiter, über ein Freundschaftsspiel, das Athletic am selben Tag in meinem Wohnort Miranda de Ebro absolviert hatte, und natürlich über das Spiel der Spanier.

„Viel zu lasch geschossen“ seien die Elfmeter gewesen. Da konnte ich kaum widersprechen – hatte Goikoetxea doch selbst bei der WM 1986 einen Elfer souverän versenkt. Mit ordentlich Anlauf, Vollspann halbhoch rein ins Glück zum 3:1 gegen Dänemark im Achtelfinale. Nachdem wir noch kurz die diesjährigen Titelfavoriten durchgesprochen hatten, blieb mir nur noch eine Frage. Wie hatte er überhaupt den Text über sich aus meinem Buch lesen können? „Meine Töchter haben ihn übersetzt“, lachte „Goiko“, „die sprechen die Sprache perfekt, sie waren auf der Deutschen Schule in Bilbao und auch in Madrid während meiner Zeit bei Atlético.“ Ich kann mich nur wiederholen: Die Welt des Erstlingsautors hält ständig neue Überraschungen bereit. Hier der Text über Andoni Goikoetxea aus meinem Buch:
Andoni Goikoetxea – Zwei Seiten der Medaille
Ein Paar Fußballschuhe in einer Glasvitrine als Symbol einer ganzen Fußballerkarriere. Lediglich zwei Spiele lang wurden sie getragen, und so sehen die Adidas-Stiefel auch im Jahr 2008, 25 Jahre nach ihren beiden Einsätzen, noch aus wie neu, als Andoni Goikoetxea sich mit ihnen für die Tageszeitung „El País“ ablichten lässt.
Eingeweiht werden sie am 24. September 1983 im Camp Nou. Die spätsommerliche Stimmung ist aufgeheizt, 120.000 Barcelonistas wollen Athletic, den amtierenden spanischen Meister, verlieren sehen. Doch steht das Verlieren oder Gewinnen überhaupt noch im Mittelpunkt? Die Großklubs aus Madrid und Barcelona wollen die Hegemonie der baskischen Klubs aufbrechen. Schließlich haben sich Athletic und Real Sociedad die letzten drei Titel untereinander aufgeteilt. Hinzu kommt, dass der immense politische Druck der damaligen Zeit – Basken und Katalanen kämpfen nach Jahrzehnten der Unterdrückung seit Ende der Franco-Diktatur um Anerkennung – auch im Fußball sein Ventil findet. Die Kämpfe, die im Madrider Parlament nicht zur Zufriedenheit des Volkes ausgetragen werden, verlagern sich auf die Straßen, in die Bars und nicht zuletzt in die Stadien.
Und dann ist da noch die Vorgeschichte mit Bernd Schuster, als wäre die Gemengelage nicht schon explosiv genug. Der deutsche Mittelfeldstar des FC Barcelona wird 1981 durch ein Foul von Goikoetxea so schwer am Knie verletzt, dass er ein Jahr aussetzen muss. Als Barça mit 2:0 führt, wittern die 120.000 im Camp Nou die Chance auf eine Erniedrigung der Basken. Die Atmosphäre überträgt sich auf den Platz, das Spiel ist auch für damalige Verhältnisse ruppig, der Schiedsrichter greift kaum ein. Ein Foul von Schuster an Goikoetxea übersieht er ganz, woraufhin die Barça-Fans den blonden Engel mit Sprechchören feiern. Goikoetxea lässt sich von der Stimmung mitreißen und grätscht Diego Armando Maradona, damals 22 Jahre alt und auf seiner ersten Station in Europa, aus vollem Lauf brutal von hinten um, Maradonas Knöchel bricht, Bänder reißen. Erst nachdem die Barça-Spieler den Schiedsrichter umzingeln, zückt dieser die Gelbe (!) Karte.
Goikoetxea wird nachträglich vom Sportgericht zu einer Sperre von 18 Spielen verdonnert, die später inmitten eines unsäglichen Medientheaters erst auf zehn, dann auf acht und schließlich auf sechs Partien reduziert wird. Englische Zeitungen prägen den Begriff vom „Butcher of Bilbao“, der im Deutschen zum „Schlächter“ wird. „Hartes Einsteigen im Fußball wird je nach verursachtem Schaden und Namen des Opfers beurteilt“, schreibt Athletic-Chronist Eduardo Rodrigálvarez. Goikoetxeas Opfer hätten keine größeren Namen sein können, Schuster und Maradona sind die unumstrittenen Jungstars der früher 1980er-Jahre. Der Schaden ist ebenso immens, beide Spieler fallen viele Monate lang aus, in beiden Fällen gewinnt der Klub der Verletzten die Meisterschaft nicht. Der „Schlächter“ hat seinen Namen weg, verschwindet in einer Schublade, aus der er – außerhalb des Baskenlandes – nie wieder herauskommen wird. Als er im Spätsommer seiner Karriere zu Atlético Madrid wechselt, verfällt selbst sein neuer Präsident Jesús Gil in dieselben Muster: „An Goikoetxea und Artetxe als Innenverteidiger kommt keiner vorbei. Sie werden Angst und Schrecken verbreiten“, zitiert ihn Rodrigálvarez.
In Vergessenheit gerät bei all der martialischen Rhetorik, dass „Goiko“, wie er liebevoll in Bilbao gerufen wird, trotz aller Härte ein für seine Zeit durchaus überdurchschnittlich versierter Verteidiger ist. Zeitzeugen rühmen seinen feinen linken Fuß, mit dem er punktgenaue lange Bälle auf Athletic-Stürmer Argote schlägt, der die Zuspiele wie ein Magnet anzieht. Wäre damals die Packing-Rate schon erfunden worden, Goikoetxea hätte wohl in dieser Kategorie Top-Werte aufzuweisen gehabt. So bringt er es auf 39 Einsätze in der spanischen Nationalelf, in denen er vier Treffer erzielt, einen davon bei der WM 1986, neben der EM 1984 das zweite Turnier, an dem er teilnimmt. In 369 Spielen für Athletic trifft er für einen Innenverteidiger beachtliche 44-mal. Pablo Alfaro, Verteidigerlegende des FC Sevilla, der ob seines harten Spiels einen ähnlichen Ruf wie „Goiko“ genießt, bringt es Anfang 2021 in einem Interview mit „El Mundo“ auf dem Punkt: „Nur mit dem Austeilen von Tritten hältst du dich keine 18 Jahre in der Elite. Aber wenn du gar nicht austeilst, bringst du es nicht einmal auf ein Jahr.“
Den zweiten und letzten Einsatz haben Goikoetxeas Schuhe vier Tage nach dem Ligaspiel in Barcelona. Im Rückspiel des Sechzehntelfinals im Europapokal der Landesmeister gegen Lech Posen dreht Athletic das 0:2 aus dem Hinspiel mit einem deutlichen 4:0. Goikoetxea erzielt per Kopf das frühe 1:0 und wird nach Spielende auf den Schultern der Fans aus dem Stadion getragen. In dieser kuriosen Szene, die man eher nach einem Titelgewinn erwarten würde, entlädt sich die gesamte Leidenschaft und Polemik der vorangegangenen Tage.
Die Schuhe habe er keinesfalls als „Jagdtrophäe“ aufgehoben, sagt Goikoetxea 2008 zu „El País“. Vielmehr repräsentierten sie für ihn die zwei Seiten der Medaille, Kopf und Zahl, die er innerhalb von nur vier Tagen erlebte. Beide Spiele enden 4:0, einmal zugunsten von, einmal gegen Athletic. Vielleicht ist es auch das, was Goikoetxea an den Schuhen festhalten lässt: das Gleichgewicht. Die Berichterstattung über ihn wird das nach dem 24. September 1983 nie wiedererlangen. Selbst fast 40 Jahre nach dem berühmten Foul wird Goikoetxea weiterhin angefeindet – die sozialen Medien bilden heutzutage dafür die „ideale“ Plattform. Als er nach dem Tod Diego Armando Maradonas Ende 2020 per Twitter aufrichtig kondoliert, wird sein Account mit Verwünschungen und Beleidigungen überflutet. Mit seinem über die Jahre antrainierten Stoizismus twittert Goikoetxea an alle Hater: „Euch zu antworten wäre das Gleiche, wie einem Esel den Kopf zu waschen. Verschwendung von Zeit und Seife.“