blog vom 14.05.2021
Deportivo Alavés, Jordi Cruyff und der Uefa-Cup
Die Nummer drei im Baskenland, ein Uefa-Cup-Finale in Dortmund gegen Liverpool als Höhepunkt der Vereinsgeschichte und ein heftiger Absturz. Dirk Segbers über einen hierzulande eher unbekannten Klub, der vor 20 Jahren beinahe den Europapokal gewonnen hätte.
Für Jordi Cruyff markiert der 16. Mai 2001 das prägendste Erlebnis seiner drei Jahre bei Deportivo Alavés. „Wenn man überlegt, wer wir damals waren, ein Debütant in europäischen Wettbewerben, und dann im Finale gegen Liverpool … Trotz allem waren wir überzeugt, dass wir gewinnen konnten“, schreibt er in der Sonderausgabe der Tageszeitung El Correo zum Jubiläum des baskischen Klubs. Obwohl Cruyff in der 89. Minute zum 4:4-Ausgleich trifft, verliert Alavés das UEFA-Pokal-Finale in Dortmund mit 4:5 nach Golden Goal – durch ein Eigentor. Der „größte Vizechampion aller Zeiten“ (El País) wird tags darauf von Tausenden in seiner Heimatstadt Vitoria-Gasteiz gefeiert. Es ist der größte Erfolg in der Geschichte des Vereins, der 2021 sein 100-jähriges Jubiläum begeht. Im Gegensatz zu Gegner Liverpool geht es für Alavés nach dem Finale bergab – zumindest zunächst.

Spielverlauf – das 4:4 durch Jordi Cruyff fiel erst in der 89. Minute – musste also ein Golden Goal das Spiel
entscheiden. Und passend zur dramatischen Partie ist es ein Eigentor von Geli in der 117. Minute, das ein
Elfmeterschießen verhindert und Liverpool zum Sieger macht. (Foto: imago images)
Alavés rangiert im Baskenland in der Gunst der Fans deutlich hinter Athletic Bilbao und Real Sociedad San Sebastián. Außer den beiden baskischen Platzhirschen befinden sich im näheren Umkreis mit CA Osasuna und SD Eibar zwei weitere aktuelle Erstligisten. Auch in Vitoria-Gasteiz selbst spielt der Klub, der in seiner Geschichte lediglich 16 Spielzeiten in der Primera División vorzuweisen hat, nur die zweite Geige. Der örtliche Basketballverein Saski Baskonia hingegen ist jährlich international vertreten, gewinnt allein in den 2000ern dreimal die spanische Meisterschaft und lässt dabei die prominenten Basketballableger von Real Madrid und FC Barcelona hinter sich. Die für Basketball-Verhältnisse monströse Fernando-Buesa-Arena mit ihren 15.000 Plätzen ist meist ordentlich besucht, während sich das knapp 20.000 Zuschauer fassende Estadio de Mendizorroza Anfang des Jahrtausends oft nur spärlich füllt.
Die Suche nach einem Investor
Gonzalo Antón, seit 1998 Präsident und Mehrheitseigner von Deportivo Alavés, kennt als ortsansässiger Unternehmer das Umfeld und wirtschaftet entsprechend. Mit teuren Verpflichtungen hält er sich zurück: Jordi Cruyff kommt im Jahr 2000 ablösefrei von Manchester United. Der rumänische Abwehrspieler Cosmin Contra, für 1,8 Millionen Euro aus seinem Heimatland gekommen, wird nach der erfolgreichen Europacupsaison für sieben Millionen an Milan weiterverkauft. In der Saison 2002/03, keine zwei Jahre nach dem Beinahe-Triumph von Dortmund, geht die zurückhaltende Transferpolitik nicht mehr auf: Alavés muss runter in die zweite Liga. Nachdem der direkte Wiederaufstieg in der Folgesaison scheitert, entschließt sich Antón, den Großteil seiner Anteile am Verein zu verkaufen. Ein Investor aus der Umgebung, wie von den meisten Fans gewünscht, findet sich für den Verein nicht, auch wenn er finanziell gesund ist. Im vorangegangenen Lizenzierungsverfahren habe Alavés als zweitbester Klub der gesamten Liga abgeschnitten: „Es wird niemandem Geld geschuldet“, so Antón im Online-Blatt Libertad Digital.
Antóns Anteile sichert sich trotz Protesten der Fans der ukrainische Unternehmer Dimitri Piterman, der in Spanien kein Unbekannter ist. 2003 war er Hauptanteilseigner am finanziell angeschlagenen Klub Racing Santander geworden und der erste Ausländer, der einen spanischen Fußballklub faktisch kontrollierte. Der Geschäftsmann besitzt keinerlei fußballerischen Hintergrund – seine sportlichen Erfahrungen beschränken sich auf seine Jugendzeit als erfolgreicher Dreispringer. Eine Trainerlizenz kann er folglich nicht vorweisen, hegt dafür aber reichlich Trainerambitionen. In Santander setzte er die Einstellung seines präferierten Coaches Jesús Gómez Cos, genannt Chuchi Cos, durch. Der ehemalige Zweitligaprofi ist kaum mehr als eine Marionette Pitermans. Um in den Stadioninnenraum zu gelangen, ließ Piterman sich gelegentlich als Fotograf akkreditieren und postierte sich in der Nähe der Trainerbank. Die Fans protestierten massiv gegen ihn: Bei einem Heimspiel zeigten sie ihm von den Rängen Rote Karten, 15.000 davon waren vor dem Stadion verteilt worden. Nachdem eine Bankbürgschaft platzte und die Übernahme weiterer Anteile durch Piterman scheiterte, wurde er von seinen Aufgaben als Präsident und „Co-Trainer“ entbunden, später verkaufte er seine Anteile an Racing Santander.
Trainerwechsel-Spiele im „Irrenhaus“
Bei seinem Amtsantritt bei Deportivo Alavés präsentiert sich der Ukrainer als Vorreiter. Er ist der Meinung, der spanische Fußball benötige tiefgreifende Änderungen. „Ich bin bereit, die Revolution anzuführen. Außer Spektakel kann ich noch viel mehr beitragen“, lässt er im Klatschblatt Interviú verlautbaren, im selben Artikel ein Foto von ihm auf der Trainerbank im Mendizorroza-Stadion – im Adamskostüm. „Du bist ja ein hübscher Kerl, aber das nächste Mal machst du dich besser daheim auf der Couch nackig“, übermittelt ihm laut El Correo Fan-Ikone Asun Gorospe, Allesfahrerin seit den 1950er-Jahren, stellvertretend für die zunehmend aufgebrachten Fans, die ihre Spielstätte entweiht sehen. Als diese Piterman im Stadion auspfeifen, betitelt er sie als „minderbemittelte Säufer“. Noch in der Vorbereitung zur Saison 2005/06 feuert Piterman den Coach Rafael Monfort, nur 33 Tage nachdem er ihn eingestellt hatte. Dessen Nachfolger ist gleichzeitig sein Vorgänger: Pitermans „Wegwerftrainer“ (El País) Chuchi Cos. Dem Verein ist soeben der Wiederaufstieg in die Primera División gelungen – dank eines starken, teuer erkauften Kaders und mit (oder trotz) Cos auf der Bank.
Die Saison in der Primera División läuft jedoch schlecht und Piterman entlässt Cos, um ihn nach dem Verschleißen dreier weiterer Trainer und dem erneuten Abstieg wieder einzustellen – und bald darauf wieder fortzujagen. Bestes Beispiel für Pitermans Umgang mit Trainern, die nicht nach seinem Gutdünken arbeiten, ist die Zweitligasaison 2006/07, als er Fabriciano González „Fabri“ eine Dreiviertelstunde vor dem Spiel gegen Vecindario feuert – wegen Differenzen aufgrund der Mannschaftsaufstellung. Dann droht er ihm mit rechtlichen Konsequenzen, wenn er nicht trotzdem auf der Trainerbank Platz nimmt. Ohne den frisch geschassten Übungsleiter wäre nämlich niemand mit Trainerlizenz im Innenraum gewesen, was eine Geldstrafe nach sich gezogen hätte. Fabri nimmt eingeschüchtert seinen Platz ein, woraufhin ihn Piterman nach einer angeblichen Aussprache wieder einstellt. Selbst die seriöse El País konstatiert, der Verein habe sich unter Piterman in ein „Irrenhaus“ verwandelt. „Alavés gewann auch noch 5:1 gegen Vecindario, was sicherlich dazu führen wird, dass man dort weiterhin glaubt, die Figur des Trainers sei im Fußball überflüssig“, ätzt das Blatt. „In Vitoria weiß jeder, (…) wie überzeugend Piterman sein kann, besonders wenn es ums Geld geht. Wer sich ihm entgegensetzt, hat zwei Möglichkeiten, an sein Geld zu kommen: vor Gericht ziehen, oder sich seinen Bedingungen unterwerfen. Wie es aussieht, hat Fabri sich für die zweite entschieden.“
Image ramponiert und Schulden angehäuft
Anfang 2007 trifft Alavés im Achtelfinale der Copa del Rey auf Champions-League-Sieger FC Barcelona, eigentlich ein Traumlos für einen Zweitligisten, der gegen den Abstieg und mit Finanzproblemen kämpft. Der renommierte Sportjournalist Luis Martín ist vor Ort und beschreibt die Szenerie tags darauf so: „6.027 Zuschauer fanden sich in Mendizorroza ein. Die heimischen Anhänger machten so erneut deutlich, dass sie das Schicksal des Vereins, den in den 1950er-Jahren jemand El Glorioso [Der Glorreiche] taufte, der vor nicht langer Zeit ein UEFA-Cup-Finale spielte, der am Tabellenende der Segunda División gegen sich selbst und den Unsinn von Dimitri Piterman kämpft, herzlich wenig kümmert. Die Außenwände des Stadions sind voller Schmierereien in Richtung des Magnaten ukrainischer Herkunft: „Dimitri, pass auf dein Auto auf“, „Verschwinde von hier“, „Dimitri raus“, „Lass uns in Frieden“. Die jungen Leute, die die Spiele normalerweise hinter dem Tor verfolgen – gestern um die 40 – verließen Mitte der zweiten Halbzeit ihre Plätze und versuchten, auf die Haupttribüne zu stürmen. Die Polizei hinderte sie daran, woraufhin sie sich darauf beschränkten, dem Hauptanteilseigner ihres Klubs beleidigende Gesänge entgegenzuschmettern.“
In drei Jahren Amtszeit schafft es Piterman, das Ansehen von Deportivo Alavés zu ramponieren. Doch das ist nicht alles: Der eben noch schuldenfreie Verein steht im Sommer 2007 vor einem Berg von Verbindlichkeiten und muss Insolvenz anmelden. In einer komplexen Transaktion gelingt es dem örtlichen Unternehmer Fernando Ortiz de Zárate, Pitermans Anteile für drei Millionen Euro zu erwerben. Als Anwalt Pitermans fungiert Javier Tebas, der heutige Chef des spanischen Ligaverbandes. „Die Situation war chaotisch“, berichtet Ortiz de Zárate in El Correo über die Zeit nach seinem Einstieg. „Wir fanden einen Verein vor, der nichts für die neue Saison geplant hatte, nicht einmal Trikots. Es war bereits Ende Juli, also eine sehr heikle Zeit für einen Verein. Den ganzen Vertrauten Pitermans musste gekündigt werden. Der Zweitligakader war voller Spieler mit Gehältern auf Erstliganiveau. Dazu Schulden in Höhe von knapp 25 Millionen Euro. Alavés war tödlich verletzt.“

zwischen Alavés und Leganés. (Foto: Miguelazo84, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)
Übernahme durch Basketballklub
Finanziell hält Alavés sich in der Folge leidlich über Wasser, sportlich nicht. Im Sommer 2009 stürzt der Klub in die semiprofessionelle dritte Liga ab – und verweilt dort vier lange Jahre. Mitten in der harten Drittligazeit, bei einem Schuldenstand von weiterhin 15 Millionen Euro, tritt eine neue Lösung auf den Plan. 2011 kauft Josean Querejeta, Präsident und Mehrheitseigner des örtlichen Basketballvereins Saski Baskonia, Ortiz de Zárate seinen Anteil an Deportivo Alavés ab. „Saski Baskonia kauft Alavés und wird zum ersten Basketballverein mit Fußball-Abteilung“, titelt die Online-Zeitung El Confidencial. Mithilfe der Basketballer gelingt den Fußballern der Turnaround: 2013 Aufstieg in die Segunda División, 2015 Ende des Insolvenzverfahrens, 2016 geht es wieder hoch in die erste Liga, wo sich der Verein seitdem beachtlich schlägt. Gleich 2016/17 gelingt der Einzug ins Endspiel der Copa del Rey, erneut trifft man auf den FC Barcelona. Anders als zehn Jahre zuvor stehen die Fans diesmal voll hinter ihrem Klub, auch wenn Alavés dem übermächtigen Team von Luis Enrique wenig entgegenzusetzen hat und 1:3 unterliegt. Alavés ist wieder wer.
Eine wichtige Säule des wirtschaftlichen Erfolgs der Baskonia-Alavés Group ist die Verschmelzung der nicht-sportlichen Ebenen der beiden Klubs. Von Marketing über Ticketing bis hin zu den gemeinsamen Fanshops, vieles wird aus einer Hand aus dem gemeinsamen Headquarter abgewickelt. Die nachhaltige wirtschaftliche wie sportliche Entwicklung zeigt sich besonders in der Saison 2017/18, als Deportivo Alavés sich mit Spielern im Wert von – für spanische Verhältnisse läppischen – acht Millionen Euro verstärkt und lange um die internationalen Plätze mitspielt. Die Klubführung setzt auf Nachwuchsarbeit und eine Internationalisierungsstrategie, auch in ungewöhnlichen Märkten. Der kroatische Verein NK Istra 1961 gehört seit 2018 zu 85 Prozent der Baskonia-Alavés Group, hinzu kommen Kooperationen mit Klubs in Japan, Finnland und Indonesien. „Wir glauben an den Jugendfußball und unterstützen ihn. Wir haben eine Formel für die Entwicklung junger Spieler, die mit uns wachsen und schließlich in der ersten Mannschaft auflaufen oder einen Transfererlös einbringen können“, so Präsident Alfonso Fernández de Tróconiz im Newsletter von LaLiga. Es gibt zudem Pläne zur Modernisierung und Aufstockung des Stadions, die zwar wegen der Coronapandemie derzeit auf Eis liegen, aber schnellstmöglich in die Tat umgesetzt werden sollen.
Ziel der Corona-Saison: Klassenerhalt
Dimitri Piterman wird 2012 von einem Gericht wegen Unregelmäßigkeiten in den Büchern des Klubs zur Zahlung einer Entschädigung von 6,8 Millionen Euro an Alavés verurteilt. Drei Jahre später kassiert der Oberste Gerichtshof das Urteil ein. 2017 erlässt ein Gericht der Provinz Álava internationalen Haftbefehl gegen Piterman, weil er Vorladungen zu zwei weiteren Verfahren gegen ihn nicht nachkommt. Da hat er sich bereits seit Jahren nach Kalifornien abgesetzt. Die 15-jährige Sperre, während der er in Spanien an keinen Handelsgesellschaften beteiligt sein darf, dürfte ihm maximal ein müdes Lächeln abringen. Die USA liefern nicht aus.
Die Fans wollen die Ära Piterman verständlicherweise am liebsten vergessen. Nach über 15 Jahren Achterbahn können sie sich wieder mit anderen Angelegenheiten befassen außer der eigenen Vereinsführung. 2019 kursieren Aufnahmen aus dem Mendizorroza-Stadion, auf denen die Anhänger symbolisch den Fußball zu Grabe tragen – dazu haben sie einen echten Sarg mit ins Stadion gebracht. Anlass des kreativen Protestes sind die fan-unfreundlichen Anstoßzeiten.
In der laufenden Saison geht es für Alavés wieder nur um den Klassenerhalt. „Die Geschichte von Alavés ist ein ständiges Auf und Ab“, meint Klubpräsident Fernández de Trocóniz, „es gab gute Momente und schlechte, die sogar unser Überleben infrage gestellt haben. Unser Ziel ist es, dass die Primera División zum natürlichen Lebensraum von Deportivo Alavés wird.“ Die mittlerweile 83-jährige Asun Gorospe sieht das etwas pragmatischer: „Von mir aus gehe ich ein Jahr lang nicht ins Stadion, solange Alavés nächste Saison noch erstklassig ist“, fasst sie die Gefühle der Anhängerschaft in Pandemiezeiten zusammen. Ihr Wunsch scheint nach einer komplizierten Saison erfüllt zu werden. Zwei Spieltage vor Schluss steht Alavés vier Punkte über den Abstiegsrängen.
Dirk Segbers (Jahrgang 1980) ist Diplom-Übersetzer und Autor. Der gebürtige Münsterländer lebt im nordspanischen Miranda de Ebro, von wo aus er regelmäßig über den spanischen Fußball berichtet, u. a. für den Ballesterer und 11 Freunde.
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