WM 2022: Über Versäumnisse, die Folgen und die Verantwortung von Spielern | Verlag Die Werkstatt Direkt zum Inhalt
blog vom 23.11.2022

WM 2022: Über Versäumnisse, die Folgen und die Verantwortung von Spielern

von Dietrich Schulze-Marmeling

Das Neuendorf-/Neuer-Bashing ist vielleicht ein bisschen zu viel des Guten. Klar, ich hätte mir eine andere Entscheidung des DFB gewünscht. Ich war und bin enttäuscht, eine große Chance wurde verpasst. Ich bin mir aber nicht sicher, ob sie bewusst verspielt wurde.

Der DFB versäumt seit vielen, vielen Jahren, eine klare Position und Gegenstrategie zum Infantinismus, der höchsten Stufe des Blatterismus, zu entwickeln. Die einzige Antwort: Wir gehen auch auf Stimmenkauf – siehe WM 2006. Aber wie auch? Der DFB war vornehmlich mit sich selbst beschäftigt. Hinzu kam die starke Fluktuation an seiner Spitze.

Die Macht der FIFA-Führung, das gesamte System FIFA wurde akzeptiert. In der Regel haben die DFB-Funktionäre mit der korrupten FIFA-Spitze kollaboriert. Beckenbauer, Peters und Koch schwammen freudig mit. Und einer der wichtigsten Architekten des korrupten Systems war Adidas-Boss Horst Dassler gewesen. Dass die FIFA so ist, wie sie ist, fällt auch in deutsche Verantwortung. Wer mit der FIFA aufräumen will, muss auch mit der Politik des DFB der letzten 40 bis 50 Jahre aufräumen.

Boykottiert Katar

 

Dietrich Schulze-Marmeling gehört zu den profiliertesten und produktivsten Fußballautoren- und historikern in Deutschland. Sein neuestes Werk "1990. Eine WM, die alles veränderte" ist gerade erschienen. In "Boykottiert Katar 2022!" fasst er zusammen mit Bernd-M. Beyer die Katar-Kontroverse kompakt zusammen und beleuchtet auch bis dato weniger bekannte Aspekte.

 

 

Das Ende des Infantinismus

Diese Vergangenheit fällt nicht in Neuendorfs Verantwortung. Immerhin ist Neuendorf der erste Präsident, der mit der FIFA-Führung die Konfrontation sucht – zumindest ein wenig. Dass der DFB eine Wiederwahl Infantinos ablehnt, aber keinen eigenen Kandidaten aufstellt, hat einen guten Grund. Der würde eine krachende Niederlage erleben. Infantino würde ihn als Kandidaten des „arroganten Nordens“ porträtieren – und sich selbst als Anwalt des „globalen Südens“. Die Mehrheit der Stimmen wäre ihm sicher.

Wehrlos sind der DFB und andere Verbände trotzdem nicht. In der Vergangenheit hat sich der DFB gerne darauf zurückgezogen, dass der Weltverband 211 Mitglieder habe. Der DFB sei nur einer davon und habe auch nur eine Stimme – so wie Kleinstverbände ohne regulären Spielbetrieb.

Diese Ausrede darf nicht länger gelten. Würden der DFB und weitere vier, fünf europäische Nationalverbände die FIFA in ihrer aktuellen Verfassung und deren WM-Politik in Frage stellen, würde das für extreme Unruhe sorgen und das Ende des Infantinismus einleiten. Hierzu bedarf es aber zweierlei: Wir dürfen nicht an der FIFA als einzig denkbare Organisationsform des Weltfußballs kleben. Des Weiteren muss das Vorgehen so gestaltet sein, dass es auf die außereuropäische Welt nicht eurozentristisch wirkt. Das wird nicht einfach, denn seit Joao Havelange (FIFA-Präsident von 1974 bis 1998) basiert die Macht der FIFA-Bosse auf einer Allianz mit korrupten politischen Eliten und Fußballfürsten in Asien, Afrika, Südamerika, der Karibik.

Der DFB muss hier vorangehen, Thomas Kistner („Süddeutsche Zeitung“) schrieb dazu: „Die UEFA und andere Großverbände in England, Frankreich, Italien und Südamerika (und auch der DFB, sobald er mal wieder glaubwürdige Vertreter in internationalen Gremien hat) – sie alle sind in der Pflicht, den Fußball endlich von Infantinos Schatten zu befreien.“ Lise Klaveness, Präsidentin des norwegischen Verbands, fordert Allianzen mit mehreren Verbänden“. Deutschland als wichtige Fußballnation habe dabei eine bedeutende Rolle. Es sei wichtig, große Verbände an der Seite zu haben, so Klaveness. Nur so könnten Probleme wirklich angegangen werden.

Gianni Infantino
Infantino während des WM-Spiels England - Iran. Foto: IMAGO / Fotoarena

Infantino ist der Feind

Der „Hauptfeind“ heißt also nicht Bernd Neuendorf, sondern Gianni Infantino. Aber der Weg zur FIFA-Spitze führt über den DFB. Insofern ist es auch richtig, auf den DFB weiterhin Druck auszuüben und ihn für seinen Opportunismus zu kritisieren – zumindest an den Stellen, wo es angebracht ist.

Was Neuendorf – vor allem aber seine Vorgänger – versäumt haben: Alle Eventualitäten bei diesem Turnier durchzuspielen und entsprechende Antworten zu finden. So wurde man von Infantino überrumpelt. Und war nicht einmal dazu in der Lage, die Drohung der FIFA-Führung mit der gelben Karte juristisch zu prüfen. Diese Zensurkärtchen hätten vermutlich nicht einmal vor einem Sportgericht überlebt, geschweige denn vor ordentlichen Gerichten.

Wir wissen nicht, wie die Diskussion zwischen den „protest-willigen“ europäischen Verbänden gelaufen ist. Hätten sie Infantino mit der gemeinsamen Abreise gedroht, wäre der Clan-Boss eingeknickt. Denn seine „beste WM aller Zeiten“ hätte sich in Luft aufgelöst. Hätten auch nur zwei, drei Verbände die Gelb-Drohung ignoriert, wäre das Theater weiter gegangen – mit Folgen für die „beste WM aller Zeiten“. Vermutlich wäre Infantino auch hier eingeknickt – im Sinne einer Schadensbegrenzung. Wir müssen uns das einfach mal vorstellen: Die Mannschaften benennen bei jedem Spiel einen anderen Kapitän. Und das Spiel beginnt mit einer gelben Karte für diesen – noch vor der ersten Ballberührung. Absurd.

Die Aktiven müssen in Entscheidungen einbezogen werden

Oliver Bierhoff spricht von „Zensur“ und erntet hierfür Häme. Aber es gab Zeiten, in denen der DFB eine solche Zensur nicht nur begeistert verteidigte, sondern selber vornahm. Für Hermann Neuberger, DFB-Präsident von 1975 bis 1992, hatten die Spieler ihre Klappe zu halten. Egidius Braun war schwer empört, als sich Spieler an einem Buch über Rassismus im Fußball beteiligten.

Zu den Spielern: Verantwortlich für diese WM sind Verbände und deren Funktionäre. Spieler können keinen Einfluss auf Vergabeentscheidungen ausüben. Auch anschließend haben sie keine Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte. Trotzdem wird von ihnen verlangt, die Fehler der Funktionäre und Verbände auszubaden. Nun sollen sie Verantwortung tragen. Nun sind sie die ersten, von denen wir deutliche Zeichen erwarten. Wissen wir, ob alle Spieler einer Meinung sind? Wissen wir, ob Thomas Müller und Leon Goretzka auf einer Linie liegen? Kann es nicht sein, dass sowohl Neuer wie Neuendorf interne Widersprüche managen müssen?

Wie dem auch sei: Zur Reform des Vergabeprozesses gehört auch: Die Aktiven müssen hier in Zukunft mitentscheiden dürfen. Schließlich sind sie es, die für Zuschauer:innen in den Stadien, Einschaltquoten und Sponsorengelder sorgen. Je mehr Verantwortung die Spieler tragen, desto mehr können wir sie in die Verantwortung nehmen.

Auch ich wünsche mir einen Colin Kaepernick im deutschen Fußball. Aber auch hier ziehe ich einen Vergleich mit früheren Zeiten, in denen keineswegs alles besser war. Siehe die Statements vieler Nationalspieler vor der WM 1978 in Argentinien.

Mehr Mut wäre trotzdem schön gewesen. Die Fußballer des Iran haben deutlich mehr als nur eine gelbe Karte riskiert.

 

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Jan Busse & René Wildangel: Das rebellische Spiel. Die Macht des Fußballs im Nahen Osten und die Katar-WM

 

 

 

 

 

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Jakob Krais: Spielball der Scheichs. Der arabische Fußball und die WM in Katar

 

 

 

 

 

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    Ronny Blaschke: Machtspieler. Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution

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