blog vom 16.11.2022
Rebellion und Repression
Kickende Ölarbeiter, zionistische Sportler, Stadien als Gefängnisse und Ultras auf den Barrikaden – der Fußball zeigte im Nahen Osten schon viele Gesichter. Ein historischer Abriss.
von Jan Busse & René Wildangel
Warum Katar 2022 die Weltmeisterschaft ausrichten darf, ist bekannt. Als einer der reichsten Staaten der Erde war das Emirat in der Lage, ein gewaltiges Investitionsprogramm aufzulegen, die notwendigen Summen für Werbung aufzubringen und auch – so zahlreiche Zeugenaussagen und Untersuchungen – vor Korruption nicht haltzumachen. Keine große Rolle dürfte im Vergabeprozess der FIFA die Fußballtradition des Golfstaats gespielt haben, fristete das Spiel doch auf der arabischen Halbinsel lange ein Schattendasein.
Auch wenn es an der Zeit gewesen sein mag, dass ein arabisches Land die WM ausrichtet, liegen die Zentren einer lebendigen Fußball- und Fankultur anderswo, nämlich in Ägypten, Algerien und Marokko. Erste dokumentierte Berichte über Fußball in Katar gab es kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Land unter britischer Herrschaft stand, da sich die Briten den Zugang zu den Öl- und Gasvorräten sichern wollten. „Zu Beginn haben einige britische Ingenieure mit indischen Arbeitern gespielt, denen sie die Regeln beigebracht haben“, erzählte der ehemalige Ölarbeiter Tom Clayton 2018 der Daily Mail über seine ersten Fußballspiele in Katar 1948.

und René Wildangel
Jan Busse ist promovierter Politikwissenschaftler und arbeitet mit dem Schwerpunkt Internationale Politik und Konfliktforschung an der Universität der Bundeswehr München. Dort befasst er sich mit gesellschaftlichen und politischen Dynamiken des Nahen Ostens und Nordafrikas. Zuletzt erschien von ihm u. a. das Buch Der Nahostkonflikt: Geschichte, Positionen, Perspektiven (4. Aufl. 2021, mit Muriel Asseburg).
René Wildangel ist promovierter Historiker und studierte in Köln, Jerusalem und Damaskus. Er war Fellow am Zentrum Moderner Orient (ZMO) in Berlin und beim European Council on Foreign Relations (ECFR). Von 2011 bis 2015 leitete er das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah, Palästina. Derzeit arbeitet er als freier Autor und als Dozent an der International Hellenic University in Thessaloniki, Griechenland.
Anfang der 1950er Jahre trugen die Arbeiter der katarischen Ölindustrie dann eigene Wettbewerbe aus. In dieser Phase gründeten sich auch Klubs von Einheimischen, den Anfang machte 1950 der Al-Najah Sports Club in Doha, der heute den Namen Al-Ahly Sports Club trägt. Der Status als britisches Protektorat beschränkte nicht nur die nationale, sondern auch die fußballerische Selbstbestimmung in Katar und den weiteren Golfstaaten. Direkt nach der Unabhängigkeit von Großbritannien Anfang der 1970er Jahre nahm der Fußballbetrieb der Region Fahrt auf, die teilweise schon bestehenden Verbände traten der FIFA bei.
Doch erst in den letzten Jahrzehnten begannen Golfstaaten wie Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien, die Investitionen in den Fußball als Chance auf mehr globale Anerkennung, Einfluss und die Vertretung ihrer sicherheitspolitischen Interessen zu sehen. Zugleich soll der Fußball als gesellschaftlicher Modernisierungsmotor und populäre Ablenkung für die Bevölkerung dienen, allerdings jeweils unter Kontrolle der Herrscherfamilien.
Kontrolle durch Fußball
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts waren es auch im Rest der Region zunächst die europäischen Kolonialmächte, die den Fußball verbreiteten. Ihr Anspruch war nicht nur die ökonomische und politische Kontrolle über die kolonisierten Gebiete. Neben Waren sollten der vermeintliche Fortschritt und die angeblich überlegene europäische Kultur exportiert werden. Dieser Export von Wertvorstellungen beruhte dabei auch, aber nicht ausschließlich auf Gewalt und Zwang. Anders als im französisch besetzten Nordafrika, wo zunächst ausschließlich Europäer spielen durften, erlaubten die Briten etwa der ägyptischen Oberschicht, am Fußball teilzuhaben. So sollten der lokalen Bevölkerung Disziplin und Respekt vor der kolonialen Autorität vermittelt werden. Der Fußball wurde zu einem Instrument der sozialen Kontrolle.
Auch im Irak sorgten die Briten für die Ankunft des Fußballs, und zwar gleich auf mehreren Wegen. Matrosen von Handelsschiffen traten in der am Persischen Golf gelegenen Hafenstadt Basra ebenso gegen lokale Mannschaften an wie die Soldaten der Royal Air Force, die nach dem Ersten Weltkrieg im Irak stationiert wurden. 1931 gründeten Angehörige der nur Wochen zuvor neu geschaffenen Luftwaffe den ersten irakischen Fußballverein: Al-Quwa Al-Jawiya. Parallel dazu sorgten, wie auch auf der Golfhalbinsel, britische Ölfirmen für die Verbreitung und Verankerung des Fußballs.
Zwischen Nation und Religion
Ins historische Palästina gelangte der Fußball zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch auf religiösen Wegen. Die Mannschaften christlicher Schulen trugen ebenso zur regionalen Verbreitung des Spiels bei wie die zionistischen Sportvereine, die eine wesentliche Rolle in der jüdischen Nationalbewegung spielten. Nach dem Ersten Weltkrieg versuchte Großbritannien als Mandatsmacht in Palästina, die Kontrolle nach dem Motto „Teile und Herrsche“ zu erhalten. Neben Repression durch die Polizei und das Militär gegenüber jüdischen und arabischen Nationalisten betrachteten die Briten den Fußball auch als ausgleichendes Element: Die Mandatsmacht veranstaltete Wettbewerbe, an denen Vereine beider Bevölkerungsgruppen ebenso teilnahmen wie britische Mannschaften. Auch in Palästina verstärkte die britische Präsenz die Popularität des Fußballs, zumal Polizei und Militäreinheiten ihre eigenen Klubs gründeten.
Araber und Juden hatten zunehmend eigene nationalistische Ambitionen. Im gesamten Mandatsgebiet kam es immer wieder zu gewaltsamen Konfrontationen. Die Feindseligkeiten gegenüber Großbritannien, das immer stärker als Besatzungsmacht wahrgenommen wurde, äußerten sich dabei auch auf dem Fußballplatz. 1928 wurde die Palestine Football Association gegründet, die ein Jahr später von der FIFA anerkannt wurde. Sie sollte alle Bevölkerungsgruppen repräsentieren, nicht-jüdische Vereine und Funktionäre waren allerdings kaum von Bedeutung. Die ausschließlich mit jüdischen Spielern besetzte Auswahl nahm sogar an den Qualifikationsspielen für die Weltmeisterschaften 1934 und 1938 teil. Im ersten Anlauf scheiterte sie dabei an Ägypten, vier Jahre später an Griechenland. Seit der britischen Mandatszeit spiegelt sich auch der israelisch-arabische Konflikt im Fußball wider. Vor allem behindert seit 1967 die israelische Besatzung von Westbank, Gaza und Ost-Jerusalem die Bewegungsfreiheit und Entfaltung palästinensischer Vereine und macht einen normalen Spielbetrieb nahezu unmöglich.
In Algerien, Marokko und Tunesien entwickelte sich unter französischer Kolonialherrschaft ebenfalls ein zunehmend organisierter Fußballbetrieb. Der Wettbewerb zwischen den Topklubs dieser Kolonien war nach dem Ersten Weltkrieg sogar ausgeprägter als in vielen Teilen Europas. Die lokale Bevölkerung durfte daran allerdings nicht teilhaben – die Gründung der ersten einheimischen Vereine wie Esperance Sportive de Tunis 1919 stellte somit einen Akt des Widerstands und der Emanzipation gegenüber der Kolonialmacht dar.

Antikoloniales Instrument
Ab Ende des 19. Jahrhunderts nahmen die Ansprüche auf nationale Unabhängigkeit in der Region zu. Leeren Versprechungen der Kolonialmächte stand die zunehmende Mobilisierung der Massen gegenüber. Die neuen nationalen Bewegungen machten sich auch den Fußball zunutze, der sich von einer Elitenbeschäftigung zum Massenphänomen entwickelte. Zentraler Schauplatz dieser nationalen Ermächtigung war Ägypten, wo das prominenteste Beispiel der neuen antikolonialen Vereine entstand: der 1907 in Kairo gegründete Al-Ahly Sporting Club, der erste Klub „von Ägyptern für Ägypter“. Nachdem die ägyptischen Fußballer bei den Olympischen Spielen 1928 das Halbfinale erreicht hatten, sahen viele darin einen Beleg, den Briten nun ebenbürtig zu sein. Das untermauerte die Bestrebungen nach nationaler Unabhängigkeit.
Die französische Vorherrschaft im Maghreb wurde auf dem Platz endgültig gebrochen, als Wydad Casablanca zwischen 1948 und 1950 dreimal nacheinander die Nordafrikanische Fußballmeisterschaft gewann. Auch in Algerien spielten Vereine, die von der einheimischen Bevölkerung gegründet worden waren, eine zentrale Rolle im Kampf um die Unabhängigkeit. Stadien wurden zu Orten der nationalistischen Mobilisierung der Massen. Während des Algerienkriegs gründete die Befreiungsbewegung FLN 1958 als Ausdruck der nationalen Souveränität ihre eigene Mannschaft. Abdelaziz Ben Tifour, Rachid Mekhloufi und Mustapha Zitouni – allesamt erfolgreiche Profis in der ersten französischen Liga – nahmen für ihr Mitwirken im FLN-Team in Kauf, nicht mit Frankreich an der WM in Schweden teilnehmen zu können. Zwischen 1958 und 1962 bestritt die FLN-Auswahl zahlreiche internationale Spiele. Den Autonomiebestrebungen auf dem Platz folgte die Politik: Im März 1962 wurde Algerien unabhängig und im Folgejahr von der FIFA anerkannt.
Spielball der Autokraten
In den letzten Jahrzehnten wurde der Fußball im Nahen Osten oft von Autokraten genutzt. So waren für Husni Mubarak die Erfolge der ägyptischen Nationalmannschaft beim Afrika-Cup in den drei Jahrzehnten seiner Präsidentschaft ein Mittel zum Machterhalt. Hier konnte die Nation gefeiert und Korruption, wirtschaftliche Krisen und Polizeigewalt verschleiert werden.
Deutlich brutaler ging es in Irak und Syrien zu: So ließ 1982 der syrische Diktator Hafiz al-Assad aufständische Islamisten im Stadion hinrichten, und zu Beginn der Proteste gegen seinen Sohn und Nachfolger Baschar al-Assad im Jahr 2011 nutzte das Regime Stadien als Gefängnisse für Demonstranten. Im Irak ließ der gefürchtete Sohn Saddam Husseins, Udai, der auch Vorsitzender des Fußballverbands war, Spieler nach Niederlagen ins Gefängnis werfen und foltern. Nach der verpassten Qualifikation für die WM 1994 mussten Spieler so lange mit Fußbällen aus Beton trainieren, bis ihre Knochen brachen. Udais Ruf als Sadist war so berüchtigt, dass ihn sogar sein Vater als möglichen Nachfolger ausschloss.
Auch in Libyen kontrollierte mit Saadi al-Gaddafi der Sohn des Diktators Muammar als Verbandschef alle Belange des Fußballs. Neben seinen Ämtern als Sportfunktionär stand er als Kapitän von Al-Ahly auch auf dem Platz. Mitspieler erhielten Bonuszahlungen, wenn sie den Ball zu ihm passten, Kommentatoren durften nur seinen Namen nennen, bei allen anderen Spielern wurde lediglich die Rückennummer erwähnt. Berühmt ist sein Intermezzo in der italienischen Liga, wo er ab 2003 mit 30 Jahren dank der Investitionen und Beziehungen seines Vaters im Kader von Perugia, Udinese und Sampdoria auf der Bank saß.
Unterdrückung und Freiheitskampf
Ab Ende 2010 zeigte sich bei den Aufständen im Nahen Osten und in Nordafrika neuerlich das politische Potenzial des Fußballs und der Fangruppen. Die revolutionären Kräfte hatten oft in den Stadien ihren Ursprung, sie brachten Autokraten ins Wanken – und in manchen Fällen auch zum Sturz. Insbesondere bei den Protesten gegen Husni Mubarak auf dem Tahrir-Platz in Kairo spielten Ultras – allen voran die „Ultras Ahlawy“ von Al-Ahly – aufgrund ihrer Erfahrung im Straßenkampf eine wichtige Rolle. Sie wurden 2012 aber auch Opfer eines der brutalsten Massaker in der Geschichte Ägyptens. 74 Anhänger wurden bei Ausschreitungen im Stadion von Port Said getötet, während die Sicherheitskräfte dem – mutmaßlich staatlich geplanten – Morden zusahen. Ultras beteiligten sich auch in Tunesien an den Protesten, die Diktator Ben Ali stürzten.
Die oft gelobte integrative und ausgleichende Kraft des Fußballs ist in den arabischen Staaten auf internationaler Bühne hingegen eher selten zu beobachten. Sie zeigte sich aber bei den Olympischen Spielen 2004, als die Iraker das Halbfinale erreichten und die ethnisch zerfallende Nation kurzzeitig zusammenbrachten. Auch der Fußball der Frauen in der Region hat langsame, aber stetige Fortschritte gemacht. Ob die WM in Katar langfristige Reformen anstoßen wird, bleibt hingegen abzuwarten.

Dieser Text ist ein überarbeiteter Auszug aus dem Buch "Das rebellische Spiel" von Jan Busse und René Wildangel. Er erschien auch im ballesterer Fußballmagazin #175.