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blog vom 23.05.2023

MORDKOMMANDO BUM-KUN CHA

von Andreas Bock

Nach einem Foul an Frankfurts Stürmer Bum-kun Cha begann für Leverkusens Jürgen Gelsdorf ein Spießrutenlauf. Wegen Morddrohungen stand er wochenlang unter Polizeischutz.

Die Sache war ernst. Natürlich. Es war die Zeit, als in der Bundesrepublik die Waffen ziemlich locker saßen. Die RAF hatte das Land seit Anfang der siebziger Jahre terrorisiert. Politiker und Industrielle ermordet. Befreiungsaktionen gestartet. Kommando Thomas Weisbecker, Kommando Ulrike Meinhof. Bewegung 2. Juni, Volksfront zur Befreiung Palästinas. Das Attentat auf die israelischen Sportler bei Olympia 1972. Auf den Straßen kontrollierten Polizisten mit Maschinengewehren, es war ein Klima des Misstrauens, eine bleierne Zeit, in der jeder verdächtig erschien, der die Haare über die Ohren wachsen ließ. Und dann verübte ein Neonazi noch einen Bombenanschlag am Haupteingang des Oktoberfestes. Kein Wunder, dass alle Alarmglocken läuteten, als im Spätsommer 1980 auf der Geschäftsstelle von Bayer Leverkusen ein Brief einging, der mit »Mordkommando Bum-kun Cha« unterschrieben war.

Aber was war passiert?

»Eigentlich nicht viel«, sagt Reiner Calmund, der damals Manager bei Bayer Leverkusen war. »In einem Bundesligaspiel foulte unser Verteidiger Jürgen Gelsdorf den Frankfurter Stürmer Bum-kun Cha, der danach verletzungsbedingt einige Wochen ausfiel. Es war ein hartes Tackling, aber nicht die Absicht, jemanden zu verletzen.« Es stimmt: Das Foul war rüde, es hätte sogar Rot geben können. Allerdings sieht man in den Aufzeichnungen, dass sich Cha vermutlich bei der Landung verletzt hatte. Gelsdorf sieht das heute ähnlich. Es sei ein Zweikampf wie tausend andere gewesen, verriet er in »11Freunde«: »Cha wollte an mir vorbei, ich grätschte zum Ball, traf seinen Fuß, er stürzte. Ein Foul. Doch bei der Landung auf dem Rasen landete mein Gegenspieler so unglücklich auf dem Rücken, dass er verletzt ausgewechselt werden musste. Schiedsrichter Klaus Ohmsen zeigte mir die Gelbe Karte, das Spiel ging weiter.«

Andreas Bock Das Spiel ist aus True Crime
"Das Spiel ist aus. Fußball & Verbrechen"

 

Auszug aus "Das Spiel ist aus" von 11-Freunde-Redakteur Andreas Bock

Warum musste Lutz Eigendorf sterben? Wie wurde aus dem Schalker Willi Kraus ein Bankräuber? Wer entführte Barcelonas Topstürmer Quini? Und was, um alles in der Welt, war das »Mordkommando Bum-kun Cha«?

11 FREUNDE-Redakteur Andreas Bock schreibt über die großen Kriminalfälle der Fußballgeschichte. Wahre Geschichten über Spieler, die auf die schiefe Bahn gerieten oder Opfer von Verbrechen wurden. Eine Reise auf die dunkle Seite des schönen Spiels. Es geht um Mörder, Drogenschmuggler, Betrüger, Krokodile, Zuhälter, Geldfälscher, Hinterzimmerzocker, Nazis, Pornohändler, Folterknechte, Schlägertypen – und Osama bin Laden.

 

Nicht aber für Bum-kun Cha, der sich am Seitenrand krümmte und auf einer Trage abtransportiert wurde. Leverkusen gewann das Spiel 3:2, aber die Szene des Spiels blieb Gelsdorfs Foul an dem Südkoreaner. In den folgenden Tagen und Wochen entfachte eine mediale Hysterie, die von den Akteuren immer weiter befeuert wurde. Eintracht-Trainer Lothar Buchmann sprach in einem Interview von Vorsatz und wollte sogar Stollenabdrücke auf dem Rücken von Cha gesehen haben. Frankfurts Manager Udo Klug kündigte an, Gelsdorf auf Körperverletzung zu verklagen. Schon bald gerüchtete es, dass Cha möglicherweise nie wieder Fußball spielen könnte. Auch das ZDF kommentierte die Szene mit einer Mischung aus Betroffenheit und Entsetzen: »Meine Damen und Herren, wir zeigen Ihnen jetzt das brutale Ausscheiden des koreanischen Stürmerstars Bum-kun Cha.« Und dann: »Die Stollen eingesetzt als Waffe, um den Gegner einzuschüchtern. Verletzungen werden in Kauf genommen.« Die Frankfurter Boulevardzeitung »Abendpost« schrieb von »Jagdszenen in Leverkusen, bei denen das koreanische Freiwild erlegt wurde«. Und die »Bild« erklärte anhand der Abbildung einer Wirbelsäule die angeblichen Schäden, die Cha erlitten hatte. Dieser, so kam später raus, lag zu dem Zeitpunkt tatsächlich im Krankenhaus. Allerdings noch ohne Diagnose. Er selbst sprach zu wenig Deutsch, um die Vorwürfe gegen Gelsdorf zu entkräften.

Die erste Drohung gegen Jürgen Gelsdorf ging am Samstagabend bei Leverkusens Stadionwart ein, am Montag klingelte das Telefon dann ununterbrochen auf der Leverkusener Geschäftsstelle. 100 Drohanrufe und 150 Drohbriefe zählten Mitarbeiter. Ein »Eintracht-Rachekommando« und ein »Mordkommando Bum-kun Cha« meldeten sich. Einer bellte ins Telefon: »In einer halben Stunde legen wir den Gelsdorf um!« Ein anderer kündigte an, Gelsdorf beim nächsten Spiel in Gladbach vom Tribünendach aus zu erschießen. In einem Brief stand: »Ich werde dem Gelsdorf mit meinem Gewehr eins über den Pelz brennen. Ich weise darauf hin, dass ich ein sehr guter Sportschütze bin.« Vieles hatte frappierende Ähnlichkeit mit dem Hate Speech, den man heute von Twitter oder Facebook kennt. Enthemmte Kommentare und Gewaltfantasien, angeheizt und vermeintlich legitimiert durch eine oft aggressive und verzerrte Berichterstattung der Boulevardmedien. Der »Stern« wusste, dass Autogrammkarten von Gelsdorf bei Frankfurt-Fans in jenen Wochen sehr beliebt waren. »Sie sammeln die bunten Bildchen, hängen sie an Türen und pappen sie an Wände. Darüber steht: Gesucht! Darunter steht: Rache!« Bei der Polizei gingen derweil Anrufe von besorgten Eltern ein, die erzählten, dass ihre Söhne überstürzt nach Leverkusen aufgebrochen seien. Sie hätten dort »etwas zu erledigen«.

Die Fans bedienten in jenen Wochen wirklich jedes Vorurteil, das die breite Öffentlichkeit von ihnen hatte und das Torhüter Sepp Maier in seinem Buch »Ich bin doch kein Tor« wenige Monate zuvor formuliert hatte: »Man sieht blanken Hass, ja Mordlust in den Augen der sogenannten Fußballfans.«

Es war nicht leicht, diesen Hass wieder einzufangen. 1980 gab es noch keine Fanprojekte, keine Sozialarbeiter, die sich mit den Fans auseinandersetzten. Die einzige Lösung schien: Aufrüstung. Gelsdorf wurde also rund um die Uhr bewacht.* »Ich wurde vor der Tür von den Beamten abgeholt und zum Training gefahren. Weil ich in Odenthal wohnte, brachte mich die Polizei aus Bergisch-Gladbach bis zur Kreisgrenze, dort stieg ich um in einen Streifenwagen der Leverkusener Polizei. Beim Training standen die Polizisten an der Seitenlinie. Ein vollkommen absurdes Szenario.«

Aber offenbar nicht grundlos, denn einige Male berichtete die Polizei von verdächtigen Personen, die um Gelsdorfs Haus in der Hauptstraße in Odenthal schlichen. Die Polizei riet dem Spieler deshalb sogar zu einem Umzug. Einige Tage schlief er bei wechselnden Mitspielern. »Alles unter strengster Geheimhaltung «, wusste ein Reporter der »Welt«.

Gelsdorf setzte die Zeit sehr zu. Mit seinem Mitspieler Dietmar Demuth sprach er über das Foul und die Folgen. Er überlegte sogar, mit dem Fußball aufzuhören. Demuth sagte: »Wir brauchen dich doch!«

Bald war auch die Diagnose von Cha da: Abriss eines Querfortsatzes des zweiten Lendenwirbels. Keine schlimme Verletzung, erklärten die Ärzte, in ein paar Wochen sei er wieder fit. Aber die Hysterie brach nicht ab. Als Gelsdorf den verletzten Frankfurter im Krankenhaus besuchen wollte, wurde er von der Polizei abgehalten. Zu hohes Risiko! Also schickte der Leverkusener einen Blumenstrauß. Ein paar Tage später besuchten stattdessen Bayer-Vorstände Reiner Calmund und Heinz Heitmann den Verletzten. Beide hatten nicht den Eindruck, dass Cha verbittert sei. Die Blumen von Gelsdorf standen auf dem Nachttisch. Über den mitgebrachten Wimpel soll er sich gefreut haben.

Das nächste Spiel fand eine Woche später statt, DFB-Pokal beim Hamburger Amateurklub Bramfelder SV. Leverkusens Trainer Willibert Kremer nahm Gelsdorf mit, aber er befürchtete Schlimmes, wie er damals in der »Welt« sagte: »Ich glaube nicht, dass die Fensterscheiben unseres Busses heil bleiben. Ich werde mich jedenfalls im Gang auf den Boden setzen. Am besten besorgen wir uns 20 Schutzhelme, damit wir da wieder rauskommen.« Aber Kremer hatte sich getäuscht. Beim Spiel, so berichteten verschiedene Lokalmedien, sei eine Frau auf Gelsdorf zugestürmt und habe ihn geküsst. »Das tut dem doch gut«, sagte die Frau, »ist doch jetzt so ein armes Schwein.«

Als Nächstes stand das Spiel in Gladbach an. Ein Polizist saß mit scharfer Waffe im Mannschaftsbus. Im Stadion wurden die Sicherheitsvorkehrungen erhöht. Immer wieder wanderte der Blick zum Stadiondach. Aber es blieb alles ruhig.

Vier Wochen später konnte Cha wieder spielen. Der Personenschutz für Gelsdorf endete. In einigen Stadien pfiffen die Leute, wenn er am Ball war, irgendwann normalisierte es sich. Bis es am 7. Februar 1981 zum Rückspiel nach Frankfurt ging. Es war ein Hochrisikospiel. Die Frankfurter Fans hatten Rache geschworen. Und wenn sie schon nicht Gelsdorf an den Kragen konnten, dann wollten sie doch den Leverkusener Block kurz und klein schlagen. Davon erfuhren allerdings die Fans des verhassten Rivalen Kickers Offenbach, die sich bei dem Spiel mit Hunderten zu den Bayer-Fans gesellten. Es war der Beginn einer langjährigen Fanfreundschaft.

Eine andere Freundschaft entwickelte sich zwei Jahre später in Leverkusen. Dort stand im Sommer 1983 ein neuer Spieler in der Kabinentür: Bum-kun Cha. Reiner Calmund hatte ihn von Frankfurt nach Leverkusen geholt. Gelsdorf lachte – und dann umarmten sie sich. Die beiden wurden gute Freunde, trafen sich auch abseits des Fußballs, gingen zusammen essen oder ins Kino. »Es war ein gutes Ende«, sagt Gelsdorf. »Ein Ende, das fast schon zu kitschig war.«

 

* Eine ähnliche Geschichte trug sich 1996 in Gladbach zu. Auf der Geschäftsstelle rief ein Mann namens »Dr. Alpha« an und drohte mit Anschlägen, Erschießungen und/oder Entführungen. Er forderte ein Lösegeld in Höhe von sieben Millionen Mark. Die Polizei nahm die Drohung ernst und stellte Beamte für den Schutz der Spieler ab. Dr. Alpha meldete sich allerdings nie wieder.

 

Andreas Bock, geboren 1977, ist Mitglied der Chefredaktion von 11Freunde. Er hat für das Dummy Magazin und Die Zeit geschrieben. Mit einer Reportage über indonesische Ultras war er für den Deutschen Reporterpreis nominiert, mit einer anderen über Amateurfans auf Europatour gewann er den Großen VDS-Preis in Bronze. Er hat (bislang) keine Spiele verschoben und keine WM verkauft. Nur einmal hat er etwas geklaut, und zwar die Hörspielkassette »Der Superpapagei« von den Drei Fragezeichen. 1985 bei Karstadt in Hamburg-Eppendorf war das. Seitdem hat er dort Hausverbot. Mutmaßlich.

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