Jorge Kirschner de Labra: endlich ein Teil der offiziellen Athletic-Geschichte | Verlag Die Werkstatt Direkt zum Inhalt
blog vom 29.11.2022

Jorge Kirschner de Labra: endlich ein Teil der offiziellen Athletic-Geschichte

von Dirk Segbers

Goikoetxea, Etxeberria, Azpilicueta – beim Athletic Club aus Bilbao denken viele zuallererst an baskische Zungenbrecher. Logisch, laufen die doch nur mit Basken auf, das ist schließlich bekannt. Doch der Klub ist aktuell auch Williams (durch Iñaki und Nico sogar doppelt), war vor ein paar Jahren Ramalho und vor einigen Jahrzehnten auch beinahe mal Jones. Beim Klub hält man auch nicht damit hinter dem Berg, dass man vor über 100 Jahren auch Veitch, Sloop, Martyn, Burns und Grapham war. Was heute als einzigartige Klubphilosophie gilt, nämlich das Setzen auf Spieler, die in einem eng gefassten geografischen Bereich geboren oder ausgebildet wurden, ist eine Entwicklung der Zeit nach dem Spanischen Bürgerkrieg.

Gerade das macht den Klub so faszinierend: Eine auf den ersten Blick unerwartete Internationalität. Durch die Fanklubs auf der ganzen Welt oder das Schaffen diverser ausländischer Trainer wie Jupp Heynckes wurde und wird sie sichtbar. Sie zieht sich aber bereits seit den Anfängen Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Aktualität wie ein roter Faden durch die Klubgeschichte. Und die ist so unglaublich reich an Anekdoten, Siegen, Niederlagen, dass ich mich beim Schreiben von „Athletic Club Bilbao. Aus Prinzip einzigartig“ immer und immer wieder in ihr verlor, verhedderte, nur um plötzlich einen Weg zu neuen Überraschungen zu finden. Von einem Torwart namens Echevarría beispielsweise hatte ich gehört, dass er sehr jung verstorben war und witterte eine interessante Geschichte. Ich studierte die Aufstellungen seiner ersten Einsätze für Athletic und stutzte bei einem deutschen Nachnamen: Kirschner.

Athletic Club Bilbao

 

Dirk Segbers, Jahrgang 1980, ist Diplom-Übersetzer und Autor. Der gebürtige Münsterländer lebt im nordspanischen Miranda de Ebro, von wo aus er regelmäßig über den spanischen Fußball berichtet, u. a. für den Ballesterer und 11 Freunde.

 

 

Kirschner – auf ewig ein Mysterium?

Kirschner war wie Echevarría Torhüter und taucht in drei Mannschaftsaufstellungen bei Freundschaftsspielen des Athletic Club kurz vor Ende des Bürgerkrieges in der Saison 1937/38 auf. Eine Recherche ergab weder einen Vornamen noch einen Verbleib nach den besagten drei Spielen. Nur einige wenige Presseartikel aus dem Athletic-Umfeld befassten sich mit Kirschner – und das höchstens in Nebensätzen. In Internetforen nichts als wilde, unfundierte Spekulationen. Kirschner müsse wohl ein Nazi gewesen sein, der sich in Bilbao versteckt hielt und dann floh, war eine der hanebüchensten Geschichten. Seriöse Autoren wie Athletic-Chronist Jon Rivas spekulierten ebenso über „irgendeinen Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus“ – und lagen damit völlig falsch und gleichzeitig doch irgendwie richtig. Ich erhielt Tipps von Journalistenkollegen, Kirschners Nachfahren wären nach Teneriffa ausgewandert und dort als Unternehmer tätig. Dort machte ich ein Bestattungsunternehmen aus, das auf den Namen lautete und beschloss nach einem Telefonat mit dem merklich amüsierten Chef, der natürlich keinen Fußballer in der Familie hatte: Das ergibt keinen Sinn, Kirschner wird auf ewig ein Mysterium bleiben.

Athletic Club de Bilbao Jorge Kirschner
Deutscher im Athletic-Tor: Jorge Kirschner (obere Reihe, 5. v. l.) in San Mamés.

Plötzlich kam er dann aber doch noch, der entscheidende Tipp: Ein spanischer Kollege ließ mir eine Telefonnummer von einem angeblichen Nachfahren Kirschners aus Madrid zukommen. Es handelte sich um Javier Kirschner, Enkel des Torwarts Jorge Kirschner de Labra, der mich an seinen Vater Jorge Kirschner Sanz verwies. Zwischen dem Sohn des Torwarts und mir begann eine Art wundersame Symbiose aus der Distanz. Er schickte mir Fotos und Details über das Leben seines Vaters, ich recherchierte auf Genealogie-Websites und im Bundesarchiv über seine Familie. Der Torwart Jorge Kirschner de Labra war ein in Madrid als Sohn des Deutschen Georg Kirschner geborener Jude. Georg Kirschners gesamte Familie wurde im Holocaust getötet, nur er überlebte, da er sich in Spanien niedergelassen hatte. Über das Bundesarchiv fand ich Details zur Ermordung von Familienmitgliedern, die der Familie Kirschner unbekannt waren. Jorge Kirschner berichtete mir, wie sehr die kurze Zeit seines Vaters bei Athletic diesen geprägt hatte, er habe sie „Zeit seines Lebens im Herzen getragen“. Eine Sache jedoch gab es, die Jorge Kirschner Sanz merklich schmerzte: Dass sein Vater in den Klubarchiven nie Erwähnung gefunden hatte.

Endlich Teil der offiziellen Athletic-Geschichte

Athletic Club
Da ist er endlich: der Eintrag
auf der Athletic-Homepage

Ich schrieb einen langen Text über das Leben Jorge Kirschners, der in meinem Buch einen Ehrenplatz einnimmt und vom „Tagesspiegel“ sowie der spanischen „Panenka“ veröffentlicht wurde. Jorge Kirschner Sanz hat es sehr berührt, dass das Leben seines Vaters posthum so prominente Erwähnung fand. Für das schönste Geschenk sorgte jedoch kürzlich der Klub selbst, und zwar völlig ohne mein Zutun, plötzlich und unerwartet. Auf der Website von Athletic gibt es eine Seite für jeden Spieler, der einmal für den Klub aufgelaufen ist. Seit einigen Tagen gibt es dort auch eine für einen gewissen Jorge Kirschner de Labra, Torwart, geboren am 18. Februar 1920 in Madrid. Ich kann nur erahnen, was diese Geste für seinen Sohn bedeutet.

Auch im erweiterten Vereinsumfeld spricht sich die Geschichte schnell herum. Auf einer Veranstaltung zum bevorstehenden Klubjubiläum begrüßte mich vergangene Woche ein Journalist und Historiker mit den Worten: „Willkommen. Du bist doch derjenige, der den deutschen Torwart ausgegraben hat, oder?“ Für das alles hat sich die umfangreiche Recherche samt bizarrem Anruf bei einem Bestattungsunternehmen gelohnt. Jorge Kirschner Sanz erhielt die ersehnte Dokumentierung eines wichtigen Teils seiner Familiengeschichte und der Klub bekam ein winziges Stückchen seiner internationalen Geschichte zurück.

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