Alex von Kuczkowski
· 09.11.2023
Von Alex von Kuczkowski
Die National Football League ist nicht nur eine Ansammlung der besten American-Football-Spieler der Welt. Sie ist auch die reichste, schillerndste und spektakulärste Profi-Sportliga auf diesem Planeten. Entstanden vor über 100 Jahren. Mit heute hunderten Millionen Anhängern. Ihr Finale, der Super Bowl, ist das größte TV-Ereignis des Jahres. Die Sieger erhalten die Vince Lombardi Trophy, benannt nach der 1970 verstorbenen Trainer-Legende der Green Bay Packers. Und rund 150 goldene Ringe, die mit Diamanten besetzt sind.
Die NFL ist eine Institution. Ein eigener Kosmos. Für viele eine Religion. Ein traditionelles Lebensgefühl, das über Generationen weitergegeben wird. An Thanksgiving zum Beispiel, dem amerikanischen Erntedankfest, dreht sich in den USA längst nicht mehr alles um Truthähne. Sie sind eigentlich nur noch die Beilage. An Thanksgiving dreht sich alles um die NFL.
Dabei wird nur von September bis Februar gespielt. Also nicht mal sechs Monate. Und doch ist die NFL das ganze Jahr in aller Munde. Bei Jung und Alt. Über keinen anderen Sport wird mehr diskutiert und philosophiert. Ob nun gerade gespielt wird oder nicht – spielt eigentlich keine Rolle.
Das liegt daran, dass es den Verantwortlichen im letzten Jahrhundert gelungen ist, eine eigene Welt zu etablieren. Wer körperliche Höchstleistungen sehen will, gepaart mit brachialem Einsatz, Entertainment und menschlichen Dramen, sitzt bei der NFL in der ersten Reihe. Denn die Liga versteht es, sich perfekt zu inszenieren. Auf vielen unterschiedlichen Tanzflächen und mit selbst erfundenen Spektakeln, wie beispielsweise die „NFL Free Agency“ oder der „NFL Draft“. Dank ihnen ist die Liga auch in der Offseason stets (Tuschel-) Thema.
Nicht zu vergessen sind die vielen unterschiedlichen Charaktere der Hauptdarsteller. Es geht um Ruhm und Ehre. Um Rekorde und Bestleistungen. Aber auch um die große Liebe und schmerzhafte Trennungen im Privatleben. Und regelmäßig leider auch um häusliche Gewalt, Waffenmissbrauch, verbotenen Drogenkonsum oder illegale Autorennen mit Todesfolge.
Die NFL ist die beste „Soap Opera“ der Welt.
Die Spieler auf dem Rasen sind moderne Gladiatoren. Die Superstars unter ihnen werden angehimmelt wie Popgötter. Sie werden verehrt, manche aber auch verflucht. Das NFL-Rampenlicht hat Legenden wie Tom Brady, Joe Montana, Dan Marino, Jerry Rice oder Lawrence Taylor so bekannt gemacht wie Hollywood-Größen.
Das Außergewöhnliche daran: Selbst stark übergewichtige Menschen, die auf den ersten Blick nicht wie Profisportler wirken, können zu Aushängeschildern werden und Millionen verdienen. Ob groß, ob klein. Ob dünn oder dick. Im American Football werden alle gebraucht. Da ist für jede Körperstatur eine Position auf dem Feld dabei.
Gespielt wird American Football in den USA schon lange. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Damals vor allem im präindustriellen Nordosten der USA, in den Bundesstaaten Ohio, New York, Pennsylvania, Indiana und Illinois. Zu jener Zeit hatte die Sportart aber nur wenig Ähnlichkeit mit dem Spiel, wie wir es heute kennen. Es war eher ein Mix aus Rugby und Fußball. Jede Mannschaft bestand aus 25 Spielern. Die erste dokumentierte Begegnung fand am 6. November 1869 in New Jersey zwischen den Universitäten von Rutgers und Princeton statt.
Als Vater des American Football gilt Walter Camp. Der studierte ab 1875 Medizin an der Universität von Yale, an der das englische Rugby gespielt wurde. Camp fand aber keinen großen Gefallen an diesem Spiel, änderte daher ein paar Regeln und entwickelte so eine neue Sportart. Er entwarf ein eigenes Punktesystem und war dafür verantwortlich, dass 1880 die „Line of Scrimmage“ als Beginn eines Spielzuges sowie 1882 die „Downs“, also die Angriffsversuche, eingeführt wurden. Vorerst jedoch begrenzt auf drei, statt wie heute üblich auf vier. Zudem dachte er sich den „Snap“ (die Ballübergabe des Centers aus der Offensive Line an den Quarterback zur Spieleröffnung) und den „Safety“ (die Verteidigung stoppt den gegnerischen Ballträger in dessen eigener Endzone und bekommt dafür Punkte) aus.
Initiator der NFL ist Ralph Hay, ein erfolgreicher Autohändler. Er trommelte ab Sommer 1919 in seinem Showroom erstmals alle Vertreter der damals bekanntesten Footballteams aus der Region zusammen, mit dem Ziel, künftig gemeinsame Sache zu machen. Denn für alle Teambesitzer war American Football ein Minusgeschäft. Das sollte sich jetzt endlich ändern. Getreu dem Motto: „Gemeinsam sind wir stark.“ Der Ort, an dem alles begann, ist die US-Kleinstadt Canton. Ein Fleckchen Erde rund 100 Kilometer südlich von Cleveland im Nordosten des Bundesstaates Ohio. Nach regelmäßigen Gesprächen wurde am 20. August 1920 schließlich das Fundament für die American Professional Football Association (APFA) gelegt, die 1922 in National Football League umgetauft wurde.
Auch heute noch gilt American Football als Kollisionssportart. Aber damals war alles noch extrem brutaler. Die Spieler hatten keinerlei Schutzausrüstung. Was zählte, war pure Kraft. Taktik spielte – wenn überhaupt – nur eine untergeordnete Rolle. Es ging eigentlich nur darum, den Gegner über den Haufen zu rennen. Geworfen wurde fast nie. Das war viel zu gefährlich. Überhaupt war es unüblich, sein Glück im Ballbesitz zu suchen. Man gab das Spielgerät gern freiwillig ab. Der „Punter“ (er schießt den Ball weit in die gegnerische Spielhälfte) war der wichtigste Mann auf dem Feld. Der noch heute gängige Spruch „Defense wins championships“ hatte also schon Bestand.
Als sich zu Beginn der 1920er Jahre erstmals professionelle Mannschaften gründeten, bedurfte es vieler Regeländerungen, um das Spiel für die zahlenden Zuschauer im Stadion attraktiver zu gestalten – damit die Einnahmen stiegen. Ähnelte das Spielgerät noch lange dem Rugby-Ei, bekam es erst 1934 seine schlankere Form, wie wir sie auch heute noch kennen. Die Bälle werden aus echtem Kuhleder hergestellt und von Hand genäht.
Helmpflicht für die Spieler besteht in der NFL erst seit 1943. Seit 1948 darf der Kopfschutz nicht mehr aus Plastik sein. Heute sind die Helme aus Polycarbonat gefertigt. Weil’s in den 1950er Jahren auf dem Footballfeld besonders kompromisslos zur Sache ging und sich die Spieler gegenseitig die Fäuste und Ellenbogen ins Gesicht drückten, wurden die Helme ab 1954 zusätzlich mit einem Schutzgitter ausgestattet, das heute aus Stahl ist. Die Schiedsrichter benutzen seit Ende der 1940er Jahre keine Hörner mehr, um das Spiel an- oder abzupfeifen, sondern Trillerpfeifen. Seit 1975 sind sie mit Mikrofonen ausgestattet, um Strafen oder Ähnliches gut hörbar für alle im Stadion und vor den Bildschirmen anzusagen.
Das erste NFL-Spiel überhaupt, das landesweit live im Radio übertragen wurde, war das Thanksgiving-Duell der Detroit Lions gegen die Chicago Bears am 29. November 1934. Ein Meilenstein für die Entwicklung der Liga. Genau wie die erste TV-Live-Übertragung: Am 22. Oktober 1939 zeigte der Sender NBC das Aufeinandertreffen der Brooklyn Dodgers und der Philadelphia Eagles in ganzer Länge in der Metropolregion New York.
Gab es zu Beginn der NFL noch einige schwarze Spieler und Funktionäre, wurden diese Anfang der 1930er Jahre zunehmend ausgeschlossen. Die Teambesitzer, alles Weiße, trafen die geheime Abmachung, keine Afroamerikaner mehr anzustellen. Zwischen 1933 und 1946 waren Weiße unter sich. Das änderte sich langsam erst wieder nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Washington Redskins waren das letzte NFL-Team, das auch wieder schwarze Spieler verpflichtete. Da war schon das Jahr 1962 angebrochen.
Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein war Baseball die beliebteste Sportart in den USA. Das änderte sich erst, als die NFL zu Beginn der 1960er Jahre Konkurrenz durch die American Football League (AFL) bekam. Dadurch war Football plötzlich allgegenwärtig. In einer Umfrage aus dem Jahr 1965 gaben bereits 41 Prozent der Amerikaner an, dass Profifootball ihre Lieblingssportart sei. Erstmals vor Baseball (38 Prozent). Spätestens seit der kurz darauf erfolgten Fusion beider Ligen – der sogenannte „NFL Merger“ – ist Football endgültig das Maß aller Dinge. Heute interessieren sich acht von zehn Amerikanern für Football, sechs von zehn bezeichnen sich selbst als Fans.
Spieltage sind ein Familienfest. Bereits viele Stunden vor dem Kickoff versammeln sich zehntausende Fans auf den Parkplätzen der gigantischen Stadien zum sogenannten „Tailgating“. Bei lauter Musik wird gegessen, getrunken, gelacht und gefeiert. Die Geldquellen der NFL sprudeln. Durch Ticket- und Merchandising-Verkäufe sowie TV- und Werbeverträge fließen jährlich riesige Summen. Im Jahr 2021 betrug der Umsatz der NFL 17,2 Milliarden US Dollar. Alle 32 Teams haben ihren Wert in den letzten Jahren verdoppelt und verdreifacht.
Die NFL boomt. Auch in Deutschland. Aus stetig wachsenden Fan-Zahlen und TV-Quoten resultierte 2022 schließlich das erste Regular Season Game der NFL auf deutschem Boden. Für dieses Spiel in München gab es fast eine Million Ticket-Anfragen. Im Herbst 2023 wird es sogar zwei Pflichtspiele in Deutschland geben, diesmal in Frankfurt. Unter anderem kommen die Super-Bowl-Champions der Kansas City Chiefs mit Star-Quarterback Patrick Mahomes.
Selbst deutsche Spieler gehören mittlerweile zu den Stars der NFL. Sebastian Vollmer ist zweimal Super-Bowl-Sieger mit den New England Patriots geworden. Markus Kuhn, einem Verteidiger(!), gelang 2014 in Diensten der New York Giants der erste Touchdown eines Deutschen in der Liga. Und aktuell zählt Wide Receiver Amon-Ra St. Brown von den Detroit Lions, der in Leverkusen verwurzelt ist, zu den besten Passempfängern der NFL.
Any given Sunday.
An jedem verdammten Sonntag. Dieses Zitat stammt übrigens von Bert Bell, Chef der NFL von 1946 bis 1959. Damals war dieser kurze Satz als Werbe-Slogan gedacht.
Heute ist er Gesetz.
Alex von Kuczkowski, kurz: „Kucze“, ist 1977 in Hamburg geboren. Nach einer Laufbahn als Sportredakteur machte er sich selbstständig und gründete u. a. die Football-Plattform Footballerei und später den Podcast „Icing the Kicker“. Aktuell zählt er zur Crew des TV-Senders RTL, der die NFL für Deutschland covert.
Instagram: @kucze22