26. Juni 1992, Ullevi-Stadion, Göteborg
Nach dem Sieg bei der WM 1990 hatte Berti Vogts die Nationalmannschaft von Franz Beckenbauer übernommen. Der „Kaiser“ hatte sich – euphorisiert durch den WM-Triumph und die bevorstehende Wiedervereinigung – mit den Worten verabschiedet: „Es tut mir leid für den Rest der Welt, aber die deutsche Mannschaft wird in den nächsten Jahren nicht zu besiegen sein.“ Dank des munteren Plauderers lastet nun auf seinem Nachfolger ein enormer Erwartungsdruck.
Als amtierender Weltmeister zählt Deutschland natürlich zu den Favoriten auf den Turniersieg. Günter Netzer attestiert dem DFB-Team eine große Zukunft: „Seit Jahren verspüre ich zum ersten Mal, dass dieses Team über einen längeren Zeitraum etwas bewegen kann.“ Für die Klasse des deutschen Kaders spricht auch die große Präsenz deutscher Nationalspieler in Italiens Serie A, die als weltweit beste Fußballliga firmiert. Andreas Brehme und Jürgen Klinsmann spielen für Inter Mailand, Rudi Völler und Thomas Häßler für AS Rom, Thomas Doll und Karl-Heinz Riedle für den Lokalrivalen Lazio, Stefan Reuter und Jürgen Kohler tragen das Trikot von Juventus Turin. Andreas Möller wird sich bald ebenfalls „Juve“ anschließen.
Die Abwehr bilden die Weltmeister Bodo Illgner, Kohler, Brehme und Reuter, zu denen sich der Frankfurter Manfred Binz in der Position des zentralen Mannes gesellt.
Nicht im Aufgebot befindet sich dagegen der verletzte Kapitän, Leitwolf und Mittelfeldmotor Lothar Matthäus. Wer kann seine Rolle übernehmen? Mit Stefan Effenberg, Matthias Sammer, Andreas Möller und Thomas Häßler besitzt Vogts durchaus Alternativen. Doch mangelt es Effenberg und Sammer im Vergleich zu Matthäus an Erfahrung. Und Möller ist kein Leader und zu offensiv orientiert. Bleibt noch Thomas „Icke“ Häßler.
Vorne verfügt das DFB-Team mit Riedle, Völler und Klinsmann über einen Paradesturm. Allerdings fällt Völler wegen eines im Gruppenspiel gegen die GUS erlittenen Armbruchs aus. Die Kapitänsbinde, die Völler von Matthäus übernommen hatte, wurde an Andreas Brehme weitergereicht, der sich jedoch in dieser Rolle im weiteren EM-Verlauf spürbar überfordert zeigte. Dem DFB-Team fehlte fortan eine Leit- und Integrationsfigur.
Mit Dänemark und Deutschland stehen sich zwei Mannschaften gegenüber, die in ihrer Spielauffassung unterschiedlicher nicht hätten sein können. Berti Vogts’ Philosophie berücksichtigt vor allem wissenschaftliche Erkenntnisse. Akribisch genau achten er und sein Stab auf eine angemessene und ausgeglichene Ernährung. Auch der Aufbau der Übungseinheiten spiegelt die neuesten Entwicklungen der Bewegungslehre. Ganz anders die Dänen. Sie werden auch als „Big-Mac-Truppe“ bezeichnet, weil sie während des Turniers schon mal bei McDonalds auflaufen. Im Spiel überwiegen die Emotionen, taktische Überlegungen und Zwänge haben hier wenig verloren. Laut Flemming Povlsen ist der Fußball für die Dänen „in erster Linie Spaß“. Mannschaftskamerad Torben Piechnik ergänzt, man nehme alles nicht so wichtig und bleibe locker. Kein anderes Team lässt sich so wenig in ein taktisches Korsett zwängen wie die Dänen, die munter drauflos spielen – zuweilen gegen die Überzeugung ihres Trainers. Natürlich wird auch bei den Dänen hart trainiert, doch außerhalb der Übungseinheiten bewegen sich die Spieler völlig frei und genießen das Leben.
Das Finale verläuft vor 37.725 Zuschauern in Göteborg zunächst ganz im Sinne der Deutschen. Sammer treibt das Spiel aus dem defensiven Mittelfeld nach vorne, Reuter liefert ein grandioses Flügelspiel auf der rechten Seite, Effenberg schaltet im Zentrum, wie er will, und Häßler konserviert seine gute Form aus den Spielen zuvor. In der 7. Minute ist der von Sammer angespielte Reuter dicht am Führungstreffer, doch er vergibt. Möglicherweise wäre mit einer 1:0-Führung das Spiel besser für die Deutschen gelaufen.
Stattdessen passiert Brehme ein folgenreiches Missgeschick im Mittelfeld, als er den Ball an Vilfort verliert. Der Däne bedient Povlsen, dessen Zuspiel nimmt John Jensen an der Strafraumgrenze auf. Mit einem satten Schuss erzielt der passionierte Biertrinker (Spitzname „Faxe“) in der 18. Minute die dänische 1:0-Führung.
Das deutsche Spiel erleidet nun einen Bruch. Abgestimmtes Passspiel weicht einem ideenlosen Geplänkel, das sich besonders im Mittelfeld abspielt. Taktisch klug lassen sich die Dänen in die Defensive zurückfallen, bleiben aber bei schnellen Kontern stets brandgefährlich. Da sie technisch ausgereift sind, haben die Deutschen in Zweikämpfen häufig das Nachsehen. Fünf Gelbe Karten für das DFB-Team bezeugen dessen Hilflosigkeit. Trotzdem ergeben sich Chancen zum Ausgleich. Die größte hat Klinsmann nach knapp einer halben Stunde Spielzeit, doch er scheitert an Dänen-Keeper Peter Schmeichel. Eine Temposteigerung wäre möglicherweise der Schlüssel zum Erfolg gewesen, denn die Dänen zeigen konditionelle Schwächen – kein Wunder nach 120 Minuten Halbfinale gegen die Niederländer.
Nach der Pause bringt Vogts Thomas Doll für Sammer, um den Druck auf das dänische Tor zu erhöhen. Immerhin kann Doll sein Gegenüber Vilfort in die Defensive drängen, ausschalten lässt sich der Däne aber nicht. Das Spiel der Deutschen wird druckvoller. Verantwortlich für diese Wende ist einmal mehr „Icke“ Häßler. Zwei Großchancen in der 58. Minute durch Buchwald und in der 75. Spielminute erneut durch Klinsmann münden jedoch nicht im Ausgleich. Peter Schmeichel ist an diesem Tag unüberwindbar.
In der 78. Minute dann die Entscheidung. Kim Vilfort von Bröndby IF, neben Schmeichel bester Mann auf dem Platz, lässt Thomas Helmer aussteigen und trifft zum viel umjubelten 2:0.
Dänemark freut sich über seinen ersten internationalen Titel seit dem Gewinn des (mehr oder weniger bedeutungslosen) olympischen Fußballturniers von 1906. Der dänische Triumph ist symptomatisch für ein Turnier, bei dem die vermeintlich großen Fußballnationen enttäuschen. Für Italien und Spanien hat es nicht einmal zur Schweden-Fahrkarte gereicht, England und Frankreich scheitern bereits in der Vorrunde. Und Vize-Europameister Deutschland hat in fünf Turnierspielen nur zwei Siege zustande gebracht.
Mit Dänemark hat erstmals in der Geschichte der EM ein krasser Außenseiter das Turnier gewonnen. Die internationale Presse lobt den neuen Champion in höchsten Tönen. Für Belgiens Le Soir ist der Sieg der Dänen „eine belebende Hymne an die Tapferkeit, an die bunte Mischung und die Einfachheit“. Der dänische Triumph habe „alle Theorien der Hexenmeister, der Berater in weißen Kitteln und der Trainer aus dem Laboratorium über den Haufen geworfen“. Vom „Dänen-Wunder“ spricht der Schweizer Blick, für Spaniens Diario 16 haben Schmeichel und Co. den „Fußball-Nobelpreis“ gewonnen. Die Göteborg Posten wähnt sich als Zeugen der „größten Sensation in der Fußballgeschichte“. Und in der Heimat des neuen Champions schreibt Politiken: „Wir kamen durch die Küchentür, schnappten den Favoriten das Hauptgericht vor der Nase weg und verließen das Ullevi-Stadion auf dem roten Teppich.“
Michel Hidalgo, der Frankreich 1984 zum EM-Titel geführt hat, empfiehlt die Dänen als „Beispiel für ganz Europa“, da sie „wahren und authentischen Fußball“ gespielt hätten. Und Bundestrainer Berti Vogts? Das Spiel des Gegners sei „toll anzusehen“ gewesen, weil die Dänen „alle taktischen Anweisungen über den Haufen gerannt“ hätten.
Frenetisch umjubelt kehren die dänischen Spieler in ihre Heimat zurück. Vor dem Kopenhagener Rathaus skandieren über 150.000 Menschen immer wieder „We are red, we are white, we are danish dynamite!“ und intonieren als neue dänische Nationalhymne: „Vi er røde, vi er hvide, vi står sammen side om sid.“ Das rote Nationaltrikot mit einem „2:0“ auf dem Rücken avanciert zum Verkaufsrenner. Der im Halbfinale am Knie verletzte Henrik Andersen wird mit einem Krankenwagen vor das Rathaus gefahren, um der Menschenmenge die gewonnene Trophäe zu präsentieren. Das linke Bein eingegipst, meint der für den 1. FC Köln spielende Andersen sichtlich gerührt: „Ich muss mich sehr beherrschen, sonst fange ich an zu weinen.“
Dänemark: Schmeichel – Olsen – K. Nielsen, Piechnik – Sivebaek (67. Christiansen), Jensen, Larsen, Vilfort, Christofte – Laudrup, Povlsen
Trainer: Richard Möller Nielsen
Deutschland: Illgner – Helmer – Kohler, Buchwald – Reuter, Effenberg (81. Thom), Brehme – Häßler, Sammer (46. Doll) – Klinsmann, Riedle
Trainer: Berti Vogts
Tore: 1:0 Jensen (18.), 2:0 Vilfort (78.)
Schiedsrichter: Bruno Galler (Schweiz)
Zuschauer: 37.800
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