Es gibt so unglaublich viele Geschichten vom „Wunder“-Spiel gegen den RSC Anderlecht im Dezember 1993. Von den Tausenden, die beim Stand von 0:3 zur Pause, völlig durchnässt und deprimiert nach Hause gingen. Von denen, die frustriert das Stadion verließen, obwohl sie Tribünenkarten für 100 Mark hatten und trocken unterm Dach saßen. Von all den Leuten, die dann am Autoradio, zu Hause vor dem Fernseher oder gar erst am nächsten Morgen erfuhren, dass Werder das Spiel noch gedreht hatte. Und natürlich von jenen, die trotz Regen, Wind, aussichtslosem Rückstand und ohne Überdachung in der Ostkurve geblieben waren – und dafür mit einem Spiel belohnt wurden, von dem sie noch ihren Enkeln erzählen werden. Alles irre Geschichten. Aber vermutlich gibt es keinen anderen, der dieselbe Story erzählen kann wie ich.
Gegen 18 Uhr sitze ich an diesem Mittwoch an meinem Arbeitsplatz in Wilhelmshaven und denke: Zeit genug, Anpfiff ist ja erst um halb neun. Denkste. Meine Ablösung kommt und kommt nicht. Als ich endlich losfahren kann, weiß ich, dass ich es nicht bis Spielbeginn ins Stadion schaffen werde. In Höhe Delmenhorst beginnt die Radioreportage von Walter Jasper. Noch während ich auf den Autobahnzubringer Hemelingen abbiege, sehe ich schon die Flutlichter – und unter diesen fällt in diesem Moment das 1:0 für die Belgier.
Ich bin noch nicht an der Malerstraße, da heißt es bereits 0:2. Und mit dem Eintreffen in unserer damaligen Fanklub-Kneipe an der Hamburger Straße bekomme ich gerade noch das 0:3 im Fernsehen mit. Da tröstet auch die Pizza nicht wirklich, die ich mir mit der Bedienung teile. Ein gebrauchter Abend.
Kurz vor der Halbzeit kommen die ersten Leute aus dem Stadion zurück, völlig durchnässt und frustriert. Und die gucken ziemlich verstört, als ich plötzlich aufstehe und sage: „Ich bin dann mal weg, zur zweiten Halbzeit.“ Ich habe ja eine Eintrittskarte. Zwar keinen Schirm, aber Wasser gehört für einen Marinesoldaten zum Alltag.
Und dann passiert etwas, was ich nie davor und auch danach nie wieder bei einem Spiel im Weserstadion erlebt habe: Während ich Richtung Stadion laufe, kommen mir nicht einige, nicht Hunderte, sondern Tausende Zuschauer entgegen. Ich hab sogar Probleme, die Treppe am Osterdeich herunterzukommen, so viele sind es. Ich schwimme gegen den Strom!
Als ich am Eingang zur Ostkurve die Karte abreißen lasse, gucken mich weitere unzählige „Flüchtlinge“ mitleidig an. Auch der Ordner versteht mich nicht. Mehrfach fragt er, ob ich da wirklich noch reinwolle, es stehe schließlich 0:3. „Deswegen bin ich ja hier“, antworte ich ihm. „Wir gewinnen noch 4:3.“ Er quittiert es mit einem Kopfschütteln.
In der Ostkurve ist jede Menge Platz. Von den ursprünglich 30.000 Zuschauern sind vielleicht noch 18.000 da. Ein paar Hundert Verrückte, die in der Ostkurve ausharren, singen zur „Go West“-Melodie in Dauerschleife „Olé, jetzt kommt der SVW“. Die Stimmung ist ein Mix aus Galgenhumor und Zweckoptimismus – da bin ich dabei!
Wie die Geschichte ausgeht, weiß heute jedes Bremer Kind: Nach 45 Minuten bin auch ich nass bis auf die Haut, doch das interessiert in der Ostkurve niemanden mehr. Wir haben uns längst warm getanzt, als der göttliche Wynton Rufer mit dem 5:3 dem Wahnsinn die Krone aufsetzt. Selten haben sich so viele Menschen so gründlich getäuscht.
Uwe Jahn
Dieser Text erschien im Buch Unser Leben mit Werder von Daniel Schalz.