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blog vom 20.05.2021

1. FC Magdeburg - „Die Größten der Welt“

Wer oder was ist eigentlich der 1. FC Magdeburg? Und warum sind sie "die Größten der Welt"? Ein Interview über den sehr speziellen Saisonverlauf des Clubs von der Elbe – mit Buchautor und Fan Alexander Schnarr.

 

Bevor es um die aktuelle Saison geht: Wofür steht der 1. FC Magdeburg?

Die Frage ist nicht so einfach zu beantworten, das fragen sich nämlich zahlreiche Anhängerinnen und Anhänger, mich eingeschlossen, inzwischen auch. Der Verein oszilliert zwischen Schlagworten wie „FCM-Familie“, Marketingslogans wie „Was uns zusammenschweißt“ und den Spielregeln des knallharten Profifußballs, in dem der Club sich etablieren möchte. In diesem Spannungsfeld ist spätestens seit dem Zweitliga-Abstieg am Ende der Spielzeit 2018/19 einiges an Identifikation verloren gegangen. Und ich habe den Eindruck, dass der 1. FC Magdeburg selbst gar nicht so genau weiß, was er eigentlich sein will. Die sportlich turbulenten letzten zwei Jahre haben zu diesem diffusen Bild sicher auch einen erheblichen Teil beigetragen und es bleibt abzuwarten, wohin die Reise für den FCM letztlich gehen wird.

Christian Beck 1. FC Magdeburg
Hätte einen Abschied vor Publikum verdient: Magdeburger Vereinslegende und Identifikationsfigur Christian Beck.

Warum seid ihr „die größten der Welt“?

Manche Fakten können unhinterfragt als solche stehen bleiben. Aber im Ernst: Der 1. FC Magdeburg ist der einzige Fußballverein aus der ehemaligen DDR, der einen europäischen Titel gewinnen konnte (und zwar 1974 den Europapokal der Pokalsieger gegen den AC Mailand im Finale). Dazu kommen drei nationale Meisterschaften, sieben FDGB-Pokal-Siege und zahlreiche Landesmeistertitel nach dem Mauerfall. Auf diese Erfolge ist die FCM-Fanszene, deren aktiver Kern heute vor allem aus der so genannten „Generation Amateurfußball“ besteht, zu Recht stolz. Auch wenn die Zeiten nach der Wiedervereinigung oft nicht einfach waren, der FCM eine Insolvenz und diverse sportliche Rückschläge überstehen musste, gab und gibt es nicht zuletzt aufgrund der Historie immer das Gefühl, einen besonderen, großen Verein im Herzen zu tragen und Teil einer ganz besonderen Gemeinschaft zu sein – „die Größten der Welt“ eben.

Zur aktuellen Situation: Die Hinrunde auf Platz 17 abgeschlossen, in der Rückrundentabelle nach dem 36. Spieltag auf Platz sechs, Dynamo Dresden als Aufsteiger hat in der Rückserie bis dahin nur zwei Punkte mehr als der 1. FC Magdeburg erspielt. Und bis zum 26. Spieltag gab es insgesamt nur fünf Siege zu feiern – dann elf Spiele in Folge ohne Niederlage (9 Siege, 2 Unentschieden) … Welche Erklärung hast du für diesen extremen Saisonverlauf?

Im Nachhinein muss ich das leider so deutlich sagen: Die Entscheidung, an „Retter“ Thomas Hoßmang festzuhalten, mit dem am Ende der Spielzeit 2019/20 knapp der Klassenerhalt in Liga 3 gelang, und mit ihm als Cheftrainer in die aktuelle Saison zu gehen, war ein Fehler. Unter ihm spielte die Mannschaft zum Teil schlimmen Fußball, was auch daran lag, dass in der Sommervorbereitung für den Kader das falsche System trainiert wurde oder für das richtige System die falschen Spieler verpflichtet worden waren, je nachdem, wie man auf die Angelegenheit schauen möchte. Gute Ergebnisse waren dementsprechend selten, das Abstürzen ans untere Ende der Tabelle die logische Konsequenz. Im Herbst kam dann Otmar Schork als neuer Sportlicher Leiter, der lange und für viele unverständlich an Hoßmang festhielt, bis letzterer im Februar schließlich von sich aus zurücktrat. Die Verpflichtung von Christian Titz als neuer Übungsleiter war für mich dann der Wendepunkt in dieser Spielzeit. Er schaffte es, eine völlig verunsicherte Mannschaft zu einer Einheit zu formen, ihr seine Spielidee schnell zu vermitteln und dann eben die dringend benötigten Punkte einzufahren. Einen großen Anteil am Erfolg im Saisonendspurt hatte aber auch Winter-Neuzugang Baris Atik, der zunächst zwar verletzt war, dann aber mit einer unglaublichen Torquote glänzen konnte und ohne den wir tabellarisch ganz sicher nicht da stehen würden, wo wir jetzt sind.

Deine persönlichen Höhe- und Tiefpunkte der Saison 2020/21?

Viele Höhepunkte gab es in der Saison 2020/2021 ehrlicherweise nicht, dazu zählen möchte ich aber auf jeden Fall den historischen Auswärtssieg beim F.C. Hansa Rostock. Es war seit den 1970er-Jahren das erste Mal, dass eine Magdeburger Mannschaft an der Ostseeküste gewinnen konnte, was bei der Rückkehr des Teams in die Elbestadt von den Anhängerinnen und Anhängern auch entsprechend enthusiastisch und mit reichlich Pyrotechnik gefeiert wurde. Auch die sportliche „Wiederauferstehung“ mit der von dir schon angesprochenen Serie aus elf ungeschlagenen Spielen war schön und fühlte sich fast schon wie ein Erweckungserlebnis an. Auch nicht vergessen werde ich die riesige Erleichterung, die sich nach dem sicheren Klassenerhalt mit dem Sieg in Saarbrücken breit machte. Da sind schon einige Steine vom Herzen gerollt.

Ansonsten bleibt mir die Spielzeit bis Mitte Februar als eine zähe und bleierne in Erinnerung, in der ich phasenweise den Glauben an den Klassenerhalt komplett verloren hatte und sehr mit dem Verein haderte. Diese Zeit brauche ich nicht zurück und hoffe sehr, dass wir solch eine Phase nie wieder erleben müssen.

Vor der Corona-Pandemie hast du so gut wie jedes Spiel aus dem Block verfolgt. Dann kam Corona und von heute auf morgen durften keine Zuschauer mehr ins Stadion. Wie bist du persönlich mit der Situation umgegangen?

Das war und ist schwierig. Mehrere Jahre lang war mein Leben komplett auf den FCM-Spielplan und die Stadionbesuche ausgerichtet, von einem Tag auf den anderen fiel das einfach weg. Auch wenn zwischendrin mal wieder Spielbesuche möglich waren und ich mir tatsächlich auch eine Partie unter Corona-Bedingungen im Stadion anschaute, war das mit dem gewohnten Stadionerlebnis nicht zu vergleichen. Dazu kommt der Fakt, dass ich nicht in Magdeburg wohne und somit ganz plötzlich auch die persönlichen Begegnungen, die so einen Spieltag vor allem ausmachen, nicht mehr ohne weiteres möglich waren. Die Freundinnen und Freunde und die vielen, vielen Stadionbekanntschaften fehlen mir natürlich sehr und ich freue mich jetzt schon riesig auf das erste Wiedersehen. Das notgedrungene Methadon für den und die Vielfahrer*in ist dann natürlich das Pay-TV-Abo, um die Spiele des Herzensclubs wenigstens im Fernsehen verfolgen zu können. Allerdings ersetzt eine Skype-Konferenz mit dem Fanclub den gemeinsamen Spielbesuch nicht mal ansatzweise. Kurzum: Die „Tuchfühlung“ zum Verein und dem Umfeld fehlt sehr, aber es gibt ja auch Licht am Ende des Tunnels. Der FCM plant einen Dauerkartenverkauf und Fans im Stadion zur neuen Saison, auch mit dem Impfen geht es zunehmend besser voran – ich bin also ganz guter Hoffnung, was die Spielzeit 2021/22 angeht.

Was erwartest du dir von der nächsten Saison?

Schön wäre, wenn wir nach zwei sehr turbulenten Spielzeiten mal wieder eine entspannte Saison erleben würden. Das kann gern auch bedeuten, vom ersten Spieltag an souverän von der Tabellenspitze zu grüßen; ich wäre aber auch absolut zufrieden damit, dass der FCM irgendwo im Mittelfeld landet und relativ zeitig klar ist, dass nach oben und nach unten nichts mehr passiert. Die letzten beiden Jahre waren wirklich nervenaufreibend, da darf es jetzt gern wieder in erfolgreichere und eben vor allem ruhigere Fahrwasser gehen. Sehr gespannt bin ich darauf, was für eine Mannschaft Otmar Schork und Christian Titz für die neue Spielzeit zusammenstellen, schließlich ist es für beide die erste Transferperiode beim 1. FC Magdeburg, die sie gemeinsam gestalten können. Im Umfeld sind die Erwartungen sicher hoch, insbesondere nach den sehr guten Partien zuletzt und dem starken Punkteschnitt, den Titz’ Team erspielen konnte. Allerdings ist das Umfeld in Magdeburg ja ohnehin nicht so leicht zufrieden zu stellen. Es wird und bleibt also in jedem Fall spannend.

1. FC Magdeburg
"90 Minuten 1. FC Magdeburg"
von Alexander Schnarr

Wenn du für dein 90-Minuten-Buch eine Minute aus der aktuellen Saison aussuchen müsstest, welche würdest du aufnehmen?

Einen Moment in der Nachspielzeit bzw. nach dem Abpfiff, und zwar den, in dem es unweigerlich heißen wird: „Danke für alles und mach’s gut, Christian!“. Mit Christian Beck wird den 1. FC Magdeburg am Saisonende die Vereinsikone der Nachwendezeit verlassen, nach achteinhalb Jahren in Blau-Weiß hat es nach Ansicht der sportlichen Leitung nicht mehr für einen neuen Vertrag gereicht. Aus sportlicher Perspektive mag das nachvollziehbar sein, aus emotionaler Sicht endet nicht nur für Christian Beck, sondern auch für viele Clubfans eine Ära (hier habe ich ausführlicher aufgeschrieben, wie ich das meine). Der ehemalige Kapitän und Torjäger vom Dienst (er steht in der Liste der erfolgreichsten FCM-Torschützen der gesamten Vereinsgeschichte auf dem 3. Rang) ist der letzte Akteur derjenigen Mannschaft, die seinerzeit mit dem Club aus der Regionalliga in die 3. Liga aufstieg und drei Spielzeiten später den Sprung in die 2. Bundesliga schaffte. Christian Beck ist, wenn man so will, ein konkretes Beispiel für das eingangs geschilderte Spannungsfeld, in dem sich der FCM bewegt: Identifikationsfigur, Vereinslegende, eins der Gesichter einer wahnsinnig tollen Geschichte, spätestens unter Neu-Trainer Christian Titz aber ohne sportliche Perspektive im Verein – und damit eben ganz nüchtern und trocken ohne neues Vertragsangebot. Und dann noch ein Abschied in Corona-Zeiten ohne volle Nordtribüne. Das hat so ein Spieler in dieser Form einfach nicht verdient.

 

Alex Schnarr. Magdeburger Kind. Clubfan. Ü30. Nordtribünengänger. Sah sein erstes echtes Fußballspiel Anfang der 1990er-Jahre. Hat eine natürliche Abneigung gegen Haupttribünen. Mag den Blick über den Tellerrand. Findet, dass Pyrotechnik nicht in die Hände von Fernsehmoderator*innen gehört. Bloggt auf www.nurderfcm.de über die kleinen und großen Geschichten beim 1. Fußballclub Magdeburg. Veröffentlichung im Verlag Die Werkstatt: „90 Minuten 1. FC Magdeburg“.

Blog: www.nurderfcm.de

Twitter: @FCMBlog

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